Sigrid Damm: "Wohin mit mir"
Begegnungen
des Zufalls.
Italienische Reisen mit Sigrid Damm, Johann Wolfgang von Goethe und
Ingeborg Bachmann.
Wir schreiben das letzte Jahr des vergangenen Jahrtausends. Sigrid
Damm, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, deren Arbeiten
sich großteils um die Weimarer Klassik drehen,
erhält ein halbjähriges Stipendium für Rom.
Gerade erst konnte sie einen großen Erfolg ihres Romans
"Christiane und Goethe" feiern, der es auf Anhieb und zu aller
Überraschung in die deutschen Verkaufsbestenlisten schaffte.
Als sie in der "Casa di Goethe" in der Altstadt Roms Quartier bezieht,
ist sie im Geiste allerdings bereits mit einem neuen Projekt
beschäftigt, einem Buch über Lappland, wo sie vor
kurzem einen neuen Lebensmittelpunkt gefunden hatte.
Als vor mehr als 200 Jahren
Goethe
in einer Lebenskrise von Weimar nach Italien floh, wollte er sich als
Mann und Künstler neu finden. Für Sigrid Damm gab es
keine Krise, die als Anlass für die Reise dienen
hätte können, aber doch war es auch für sie
eine Zeit der Veränderung. Sie befand sich am
Höhepunkt ihrer bisherigen Schriftstellerinnenkarriere. Mit
ihren Romanbiografien von Jakob Michael Reinhold Lenz, Cornelia Goethe
und dem Paar Christiane und Johann Wolfgang von Goethe und mit ihrer
Herausgebertätigkeit zu Lenz, Caroline von Schelling und
Christiane von Goethe hatte sie sich bereits einen angesehenen Platz in
der deutschen Welt der Literatur erarbeitet. Aber ein großer
Teil ihrer Lebenszeit ist vorbei: Die DDR, Heimat von Damm, ist
Geschichte, die Söhne sind erwachsen, und gerade erst hat sie
einen neuen Lebensmittelpunkt in Lappland gefunden. Und dann Italien.
Das so gar nicht hineinpasst in die Lebensumstände.
Unerreichbar für sie als Ostdeutsche war
Italien
nie Traum einer Reise, sie verbot sich wohl westwärts zu
träumen und hielt sich stattdessen an die erreichbaren
Träume im Osten. Ihr Traum war auch nie der Süden mit
seiner Hitze und lauten Geschäftigkeit. Die Stille und Weite
des hohen Nordens, dort sah sie ihr Spiegelbild.
Der Süden, Italien, Rom. Für jene, die
nördlich der Alpen leben, immer schon ein Mythos und Sinnbild
für die Suche nach einem besseren, einem heiteren Leben, und
nach einer Neuwerdung des Selbst. Die Autorin leidet zuerst einmal
unter der Hitze und dem Lärm, luchst schließlich
eine ruhige Hofkammer einer Praktikantin ab, die sie unerbittlich als
das "kleine Brillengestell" benennt. Sie findet die
sexuelle Zudringlichkeit mancher Italiener nicht amüsant und
geht nicht geflissentlich darüber hinweg. Und trotzdem, je
weiter man sich in den Aufzeichnungen verliert, desto
spürbarer wird die wachsende Freude an einer
Annäherung an eine Stadt, an ein Land und an eine Zeit der
persönlichen Neubestimmung.
Die Autorin nimmt den Süden durchaus als eine Metapher
für Schönheit, Überfluss, Kultur
und Lebensfreude wahr, aber gleichzeitig auch eines "Zuviel" an allem,
und eine sich im Hintergrund verborgen haltende Ambivalenz. So
wie Rom die Stadt der Wiedergeburt für Goethe war,
so ist sie auch eine Stadt des Todes. Auf dem Fremdenfriedhof liegen
der Sohn Goethes, Keats, Shelley,
Bachmann.
Der lange Aufenthalt ermöglicht nicht nur diese langsame
Annäherung an die Fremde, er lässt Damm auch den
Genuss der Wiederholung entdecken. Immer wieder der Park der Villa
Borthese mit seinen Schattenbänken, immer wieder Santa Maria
del Popolo mit den beiden Caravaggios, immer wieder der Pantheon. Das
Innere,
"stets ist es ein anderes Raumerlebnis. Das Licht, das aus der neun
Meter großen runden Öffnung im Zenit der Kuppel
fällt ..., wie sich die Helligkeit auf geheimnisvolle Art in
den Zonen des Halbdunkels des riesigen Runds verlor. Ich stand reglos.
Es gab kein Zeitgefühl." Und der vergebliche
Versuch, sich das Zeitmaß der Geschichte zu
vergegenwärtigen. Antike, Raffael und
die
Renaissance, Goethe, Bachmann ... Blickt etwa die
Vergangenheit verachtend und mitleidig auf das Heutige, wie Damm
bemerkt?
Sie folgt den Spuren Goethes und Bachmanns, unternimmt Reisen nach
Sizilien,
Venedig
und an den Gardasee. Ihre Beobachtungen sind minutiös und
immer sehr persönlich, unterlegt mit ihren profunden
Literaturkenntnissen. Aber nie erliegt sie dem einfachen Charme der
Banalität, dass sie als große Goethe-Kennerin ihre
Italienreise allein an Goethe ausrichtet. Er ist ein
natürlicher Bezugspunkt, und man könnte sagen, ihre
Wege kreuzen sich.
Sigrid Damms "Wohin mit mir" ist ein Buch der Selbstreflexion.
Tagebuch, Reisejournal, Kunstführer. Als Teil eines langsamen
Prozesses, zur Übereinstimmung mit sich zu kommen. "Vielleicht
bin ich nur erschöpft", schreibt sie zu Beginn, "ich
muß stehenbleiben wie jener Afrikaner es auf seiner Reise
tat. Auf die Frage, warum er so oft haltmache, antwortete er, er
warte,
bis seine Seele nachgekommen sei."
Eine behutsame Annäherung an das Land, an das neue Leben, an
sich selbst. Gänzlich unaufgeregt und bar jedes Pathos. An
einer Stelle schreibt Damm:
"Ich genieße die Begegnungen des Zufalls." Ein
Genuss, den sie an ihre Leser weitergibt und sie mitnimmt auf dieser
bedachtsamen Reise in einen neuen Lebensabschnitt. Und wer diese
Langsamkeit als Entschleunigung schätzt, für den ist
dieses Buch eine angenehm inspirierende Lektüre.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 04/2012)
Sigrid
Damm: "Wohin mit mir"
Insel, 2012. 286 Seiten.
Buch
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Digitalbuchausgabe:
Insel,
2012.
Digitalbuch
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Sigrid
Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie
Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. In Jena studierte sie von
1959-65 Germanistik und Geschichte. 1970 folgte die Promotion. Die
Autorin ist Mitglied des "P.E.N." Sie erhielt für ihr Werk
zahlreiche Auszeichnungen, unter Anderem den "Feuchtwanger-",
"Mörike-" und "Fontane-Preis".
Weitere Bücher der Autorin:
"Goethes Freunde in Gotha und Weimar"
zur
Rezension ...
"Tage- und Nächtebücher
aus Lappland"
Bilder von Joachim Hamster Damm.
Die "Tage- und Nächtebücher aus Lappland", das wohl
persönlichste Buch Sigrid Damms, ist eine Hommage an Lappland
und
seine Bewohner, die Samen. Sigrid Damms literarischer
Text geht
hier eine Symbiose mit den von Joachim Hamster Damm geschaffenen
Grafiken, Collagen und Fotos ein.
Das Buch erzählt von einer sieben Tage langen Wanderung, die
eine 60-jährige Frau und ein 30-jähriger Mann
unternehmen. Die Bergwelt Lapplands wird von zwei Menschen gesehen und
erlebt, die Tage und Nächte werden in der Begegnung mit einer
archaischen Welt zum Experiment der Einsamkeit. Die Wanderer sind ganz
auf sich gestellt. Die Weite und Ruhe der Landschaft offenbaren die ihr
innewohnende Kraft, bringen die Frau und den Mann zum bewussten
Wahrnehmen ursprünglicher Dinge. Gras, Fell, Feuer, Wasser,
Haus, Berge, Horizontlinien, Geburt und Tod, Frieden und Krieg. Es ist
eine Meditation über den gegenwärtigen Zustand der
Welt, ein Buch der Langsamkeit, ein Buch der Stille. (Insel)
Buch
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