Teju Cole: "Open City"


Ein etwas anderes New York

Der 1975 in Lagos geborene und seit seiner Jugendzeit in den USA lebende Teju Cole hat mit "Open City" einen wahrlich grandiosen Debütroman vorgelegt.   

Als Protagonist fungiert ein junger Psychiater namens Julis, der in seiner Einsamkeit und um dem Stress im Spital zu entkommen, damit beginnt, die Straßen New Yorks fast manisch zu durchstreifen. Ziellos, allein und stundenlang, bis zur Erschöpfung führen ihn seine Spaziergänge.
Diese Spaziergänge treiben seine Gedanken zu seiner erst kürzlich in die Brüche gegangenen Beziehung zu Nadege und lassen die Metropole in einem ganz anderen Licht erscheinen, während seine Gedanken immer wieder zu anderen Themen abschweifen ...

Mehrmals begegnet er auf unterschiedliche Art und Weise Menschen; Begegnungen, die natürlich unterschiedlich lang oder kurz sind, die ebenso unterschiedlich Einfluss auf seine Gedankengänge haben. So wird jede Begegnung für den Verlauf des Romans immens wichtig.

Im ersten Teil von "Open City" entscheidet sich Julis dafür, seine fast vier Wochen Urlaub in Brüssel zu verbringen, wo er unentschlossen darauf hofft, seine Großmutter anzutreffen, obwohl er sich dann nur sehr halbherzig auf die Suche begibt. Auch hier stehen Spaziergänge und Kontakte zu unterschiedlichen Personen im Mittelpunkt der Handlung. Der zweite Teil des Romans konzentriert sich dann wieder zur Gänze auf New York.

Immer schimmern Erinnerungen an Lagos, an seine deutsche Mutter und seinen vor achtzehn Jahren verstorbenen Vater durch, die die Frage aufwerfen, ob Julius nicht möglicherweise ein alter ego des Autors ist ...

Mit frappierender Leichtigkeit verknüpft Teju Cole die verschiedensten Themen, wie zum Beispiel 9/11 und vor allem das Leben danach, sowie die Sicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika aus der Perspektive eines in Brüssel gestrandeten Marokkaners, der ebenso interessante aber auch nicht unanfechtbare Thesen zum Palästina-Israel Konflikt hat. Gleichzeitig beleuchtet der Autor auch die Perspektive einer aus Belgien stammenden us-amerikanischen Ärztin in Rente.

Literatur hat einen gebührenden Platz in diesem Roman; jene Bücher, die Teju Cole anführt, sind immer wieder Bücher, die teilweise andere oder ähnliche Facetten der diversen Fragen ausleuchten. Entwurzelung, Erinnerung und das Anderssein per se, sowie der immense Rückhalt durch die Kunst sind die komplexen Themen, denen sich der junge Autor mehr als überzeugend stellt.

Beeindruckend ist auch, wie Teju Cole von Episode zu Episode wechselt, dabei jedoch nie die wunderbar gelungene Gesamtform dieses Romans aus den Augen verliert.

Immer tiefer gelangt der Protagonist in das verborgene New York und am Ende sogar in die eigene, schmerzhafte und vermeintlich ausgelöschte Vergangenheit.

Trotz der Vielzahl an Themen ist dieser Roman ein in sich geschlossenes Kunstwerk, ein literarisches Ereignis der Extraklasse und ein Roman, der sich in die allererste Reihe der ganz großen New York-Romane einreiht, gleich neben John dosPassos, dessen vor fast hundert Jahren entstandener Meilenstein "Manhattan Transfer" nun endlich eine wirklich ernsthafte Konkurrenz erhalten hat ...

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 10/2012)


Teju Cole: "Open City"
(Originaltitel "Open City")
Übersetzt von Christine Richter-Nilsson.
Suhrkamp, 2012. 334 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Nigeria auf und kam als Jugendlicher in die USA. Er ist als Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf tätig und hat eine Stelle als "Distinguished Writer in Residence" am Bard College inne. Teju Cole lebt in Brooklyn, New York.

Weitere Buchtipps:

"New York fürs Handgepäck"

Geschichten und Berichte. Ein Kulturkompass.
Simone de Beauvoir genießt die Aussicht vom Empire State Building, Paul Auster findet Zuflucht im Central Park, Joseph Mitchell baut mit schwindelfreien Indianern Wolkenkratzer, Djuna Barnes tanzt durch Chinatown, Don DeLillo schaut sich ein Baseballspiel an, Italo Calvino ist von der Wall Street beeindruckt, Lily Brett kennt das New Yorker Lebensgefühl, Thomas Wolfe erwartet den ersten Börsenkrach, Jerome Charyn besichtigt Ellis Island, Gary Shteyngart wagt einen Blick in die Zukunft. Dies und vieles mehr über New York. (Unionsverlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Ginka Steinwachs: "Bilderbuch einer StadtstreichLerin"
"Bilderbuch einer StadtstreichLerin" ist ein einmaliges Experiment: ohne Kamera fotografieren, allein mit dem Objektiv der Sprache. Und was kommt da nicht alles zum Vorschein: Dinge, Personen und das Gewinner-Verlierer-Syndrom der U.S.A.
Gegenstände der Belichtung: ein Messer, zweischneidig und scharf wie der Unterschied zwischen den Worten "in god and in gold we trust", Signet der us-amerikanischen Dollarnote, die XXXLarge-Kultur des "enter the land of big" in Gestalt eines Joghurtbechers, die Picasso-Statue der Sylvette auf einer Wiese, das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashanah beim Friseur, fliegende Katzen, Kühe, Schweine und deren Fallschirme auf einer Hauswand, und dazu Wolken, Wellen. (Passagen)
Buch bei amazon.de bestellen

Thomas Schuler: "Die Dorfbewohner des Big Apple. New Yorker Sidesteps"
Farbig und mit viel Kenntnis erzählte Geschichten aus New York.
Er war genial und machtbesessen: Robert Moses, der Baumeister des modernen New York, der so vieles zerstörte, um die Stadt in neuer Pracht wiedererstehen zu lassen. Und doch kennt heute kaum noch jemand seinen Namen. Ganz anders steht es um den Bekanntheitsgrad von Menachem Schneerson, den bereits vor einigen Jahren verstorbenen Rebben der Lubawitscher Juden: Mangels eines Nachfolgers genießt er noch immer solche Autorität, dass er - oder vielmehr sein Grab - nach wie vor über einen Faxanschluss und dreisprachige Visitenkarten verfügt.
Thomas Schuler entwirft facettenreiche Geschichten von Menschen, die in dieser Stadt in ihrer eigenen Welt leben. Und es gibt viele solcher Welten, wie er anhand einer Fahrt durch Queens mit seinen genau abgegrenzten Stadtteilen und den 120 Nationalitäten zeigt. Aber auch von den kleinen Besonderheiten der New Yorker Kultur- und Medienszene, etwa den "fact checkers", die in Manhattans Zeitungsredaktionen den Wahrheitsgehalt des zu Veröffentlichenden überprüfen, weiß der Autor zu berichten. In der Gegenüberstellung der Extreme der Stadt und der kleinen Alltagsgeschichten gelingt es Schuler, den Mythos des "big apple" spürbar zu machen und einen Einblick in das Leben in der Metropole zu gewähren. (Picus)
Buch bei amazon.de bestellen

Colson Whitehead: "Der Koloss von New York. Eine Stadt in dreizehn Teilen"
"Der Koloss von New York", ein geheimnisvoller, rätselhafter Streifzug durch die Metropole, schildert die inneren und äußeren Landschaften der faszinierenden Stadt. Colson Whitehead, New Yorker von Geburt und aus Überzeugung, zeichnet ein sehr persönliches Bild einer Stadt, in der nichts gewöhnlich ist, auch nicht die Menschen, die sie bevölkern und denen Whitehead eine Stimme verleiht. (Fischer)
Buch bei amazon.de bestellen

Norbert Lang: "Zauberhaftes New York. Streifzüge durch die Weltmetropole"
Es handelt sich beim Buch "Zauberhaftes New York" um Reiseerlebnisse, konzipiert als Reiseführer, verknüpft mit soziologisch-kulturellen Betrachtungen.
Der Autor hat ein einfaches vierstelliges System entwickelt, mit Anmerkungen und Hinweisen zu Netzseiten. Diese bieten dem Leser die Möglichkeit, im Buch zwischen den Kapiteln zu springen und dennoch die Orientierung zu behalten. Alle Fakten wurden geprüft, ein Plan und Schnellfinder mit ausgewählten Stichworten ergänzen es.
Die beschriebenen Routen lassen sich selbst durchführen, eine eigene Reise zusammenstellen.
So ist es beides:  ein zauberhaftes Buch zum Lesen wie ein Reiseführer für spannende Entdeckungen. (Wiesenburg)
Buch bei amazon.de bestellen