Albert Cohen: "Die Schöne des Herrn"
Ein episches Meisterwerk
Der anno 1968 erstmals veröffentlichte Roman "Die
Schöne des Herrn" des aus der Schweiz
stammenden französischschreibenden Erzählers Albert Cohen ist
einer der großen (Liebes-)Romane des zwanzigsten
Jahrhunderts. "Die Schöne des Herrn" ist auch der dritte und
vorletzte Teil der "Solal-Tetralogie", die aus den Büchern
"Solal", "Eisenbeißer", "Die Schöne des Herrn" und
"Die Tapferen" besteht.
Groß ist der Roman, nicht nur wegen seiner epischen
Länge, sondern dank der Vielschichtigkeit der Aussagen, die
Albert Cohen vermeintlich hinter der diesen Roman bestimmenden,
leidenschaftlichen, zerstörerischen und überdrehten
"amour fou" versteckt.
Und das, obwohl man am Anfang dieses fast 900 Seiten langen Romans fast
geneigt ist, das Buch bereits nach wenigen Seiten wieder wegzulegen und
sich wundert, wieso man sich die Mühe einer
Überarbeitung der Übersetzung überhaupt
gemacht hat. Fast dilettantisch und altmodisch kommt dieser Anfang
daher, getaucht in eine kitschige Sauce. Die Erinnerungen der
Genfer-Protestantin an ihre Kindheit, ihren Hund und einen dubiosen
Stallburschen, der natürlich für ihr erotisches
Erwachen zuständig war, sind eigentlich das, was man einem
Schriftsteller raten möchte, nicht an den Anfang seines Romans
zu stellen.
Doch dann wechselt Cohen schlagartig die Stimmung, die Perspektive und
den Erzählstil. Sofort spürt man, in welch
großartigem literarischen Kosmos man sich befindet. Aus
dieser Perspektive betrachtet, ergibt der etwas unrunde Anfang doch
sehr viel Sinn.
Ariane, aus einer Genfer Adelsfamilie stammend, hat ihre Geschwister
und den Vater früh verloren, lebt verarmt, bis sie durch die
Erbschaft des Vermögens ihrer Tante reich wird. Obwohl sie der
Diplomat Seume aus der Verzweiflung holt und wahrscheinlich vor dem
Selbstmord bewahrt, indem er sie heiratet, träumt sie weiter
von der großen Liebe. Und die taucht mit dem Erscheinen des
französisch-jüdischen Ex-Ministers und Diplomaten
Solal auf.
Ariane erinnert sich, während sie in der Badewanne liegt und
an das in wenigen Stunden stattfindende Treffen mit Solal denkt, an die
erste Begegnung der beiden, an die ersten frivolen "Fruchtküsse".
Sie denkt daran, wie Solal sich in sie verliebt hat, hineingesteigert
in ihre, wie sie sich erinnert,
"gefährliche Schönheit".
Solal, der angesehene Diplomat, der nicht nur bei offiziellen Festen,
sondern auch in den Betten der Frauen glänzt, verdirbt sich
sein Ansehen im Jahr 1933, als er den Völkerbund wegen
Untätigkeit und Wegschauens im Zusammenhang mit den
Ereignissen in Deutschland angreift. Man weiß von den
Geschehnissen und Verfolgungen der Juden, helfen und eingreifen will
man nicht. Er verliert seinen Posten und flieht mit Ariane in den
Süden Frankreichs, wo die beiden ihre Affäre
weltfremd ausleben. Solal fühlt sich jedoch bald eingeengt und
versucht sich zu retten, indem er sich bemüht, seinen Posten
wiederzuerlangen.
Im mittlerweile antisemitischen Paris muss er erfahren, dass die
Bürger Adolf
Hitler statt des jüdischen Sozialisten und Leiters
der damaligen Volksfront, Leon Blum, bevorzugen. Enttäuscht,
verwirrt und gedemütigt kehrt er zu seiner Geliebten
zurück. Und so bewegt sich alles im Kreis weiter.
Albert Cohen zelebriert die verschiedenen Spielarten der Liebe mit
allen angenehmen und unangenehmen Nebenwirkungen bis aufs
Äußerste. Seine Protagonisten leben die Exzesse,
als wäre das Leben eine Theaterbühne, ohne
Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf
Gefühle der Mitmenschen, wie eine zu tief in die
Wundertüte greifende Inszenierung.
Enttäuschung und Verzweiflung färben jeden Satz, jede
Szene; so wird aus diesem Liebesroman ein großes Lamento auf
das grausame zwanzigste Jahrhundert, in dem die Erotik
symbolisch im Vordergrund stehend die durchsickernde Botschaft umso
stärker
wirken lässt.
"Die Schöne des Herrn" ist ein zutiefst psychologischer Roman,
der es dem Leser nicht leicht macht, immer wieder auch bewusst schwer
macht, fast so, als hätte der Autor den Leser an strategischen
Stellen wieder zur Aufmerksamkeit zwingen wollen. Es ist aber auch ein
Roman mit großen Kontrasten und viel Sarkasmus, vor allem im
Bereich der Beziehung zwischen Frau und Mann. Man meint sogar, dass die
diversen beziehungsgestörten literarischen Protagonisten der
letzten paar Jahrzehnte möglicherweise noch immer von diesem
Roman zehren.
Und während die so leidenschaftlich Liebenden ihre Eifersucht
leben, ihre Todessehnsucht projizieren und immer wieder gezwungen sind,
sich einzugestehen, dass ihre Erwartungen wieder nicht erfüllt
worden sind, meistert Albert Cohen das
Kunststück, einen fast kitschig pathetischen Liebesroman
geschrieben zu haben, der nicht nur ein psychologischer Roman in der
Nachfolge Dostojewskis
und ein Spiegel seiner Zeit ist, sondern, wie
wir mittlerweile wissen, in vielen Punkten fast prophetisch drohend in
die Zukunft weist.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 09/2012)
Albert Cohen: "Die Schöne des Herrn"
(Originaltitel "La Belle du Seigneur")
Aus dem Französischen von Helmut Kossodo
(in einer Überarbeitung durch Michael von Killisch-Horn).
Klett-Cotta, 2012. 891 Seiten.
Buch
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Albert Cohen, geboren 1895 auf Korfu, starb 1981 in Genf. Er gilt als einer der wichtigsten französischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts.