Philippe Claudel: "Die Untersuchung"


Von Philippe Claudels Roman "Die grauen Seelen" war der Rezensent vor einigen Jahren begeistert. Es handelte sich um einen Roman, der hielt, was sein Klappentext und seine Auszeichnungen in Frankreich versprachen. In einer wunderbaren selbstreflexiven Sprache schilderte der 1962 geborene Philippe Claudel damals in seinem ersten auf Deutsch veröffentlichten Roman die Geschichte eines Mordes, der nie aufgeklärt wird.  Um Schuld ging es und darum, dass bei einem Geschehen nie nur Einer sich damit belädt und sie tragen muss.

Dann kam ein Roman, der den Rezensenten noch tiefer bewegte: "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung", eine Geschichte der Beziehung zweier alter Männer, voller Trauer und Hoffnung. In diesem Buch zeigte Claudel etwas von seiner großen Kunst, in einer hohen Dichte und Kürze Wesentliches beschreiben zu können.

Mit diesen sehr positiven Leseerfahrungen im Kopf begann der Rezsenten, Claudels "Die Untersuchung" zu lesen. Der Klappentext stimmte schon vorher darauf ein, dass es darin um eine "Parabel auf die Entfremdung des Menschen in der modernen Welt" geht.

Ein Mann, der nur "der Ermittler" genannt wird, (auch alle weiteren im Verlauf auftretenden Personen bleiben namenlos und werden nur durch ihre Funktionen bezeichnet), wird von seinen Vorgesetzten, die natürlich im Dunkeln bleiben, beauftragt, in einer anonymen Stadt eine Untersuchung durchzuführen. In einer großen Firma, die ohne Namen bleibt, haben sich in der letzten Zeit in einer wahren Serie mehr als zwanzig Mitarbeiter das Leben genommen. An dieser Stelle denkt der informierte Zeitgenosse an die in Frankreich in großen Firmen durch erheblichen Leistungsdruck tatsächlich erfolgten Suizide, die es vor etwa zwei Jahren bis ins deutsche Feuilleton schafften.

Doch darum geht es eigentlich nicht in diesem Buch. Die Hoffnung des Lesers auf etwas Konkretes wird sehr schnell enttäuscht. Zu Anfang gelingt es noch, sich an der kafkaesken Sprache zu erfreuen, von der man sich stellenweise an das "Schloss" erinnert fühlt. Der Ermittler findet in der Dunkelheit die Firma nicht, gerät mitten in der Nacht an ein dubioses Hotel mit einer noch seltsameren riesigen Empfangsdame. Obwohl es außen als 4-Sterne-Haus angepriesen wird, sind die Zimmer in einem katastrophalen Zustand, und auch die Menschen, die er morgens im Speisesaal beim Frühstück trifft, geben mehr als nur ein Rätsel auf. Und so geht das weiter. Jedes Erlebnis, jede Begegnung wird undurchsichtiger, dunkler, mysteriöser. Nicht nur für den bedauernswerten und völlig orientierungslosen Protagonisten, sondern auch für den immer verwirrter und ärgerlicher werdenden Leser.

Denn die Handlung und die Dialoge werden immer unwirklicher, bewegen sich fernab jeglicher vorstellbarer Realität, auch in einer Welt, in der die Menschen entfremdet sind und unter Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit leiden.

Am Ende, nach einer sinnlosen Odyssee, begegnet der fast schon dem Tode nahe Ermittler einem Schatten, hinter dem er den Gründer der großen Firma vermutet, in der er seine Untersuchung hätte durchführen sollen. Wer sich wirklich dahinter verbirgt, bleibt unklar, und auch der Ermittler wird es nicht erfahren: "Dann starb alles in ihm, die Antwort auf die Frage, die Zeichen, die Spuren von Licht, die Erinnerung, die Zweifel. Er vermeinte ein leises Geräusch zu hören, wie wenn ein Laptop zugeklappt wird, dessen Tasten von den Fingern, die sie so lange liebkost hatten, noch lauwarm waren:
'Klack.'
Dann war es vorbei.
Vorbei."


Fazit:
"Die Untersuchung" ist ein Roman, durch den sich der Rezensent, immer verstörter werdend, durchgequält hat. Bei aller berechtigter Kritik an der Entfremdung des Menschen in der Gesellschaft, so dramatisch ist es nicht, auch nicht für die literarische Gattung der Parabel, als die das Buch angezeigt wird.

(Winfried Stanzick; 02/2012)


Philippe Claudel: "Die Untersuchung"
(Originaltitel "L'’Enquête")
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger.
Kindler, 2012. 221 Seiten.
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