Mircea Cărtărescu: "Der Körper"
Ein magisches, wucherndes
Meisterwerk
Im Herbst 2011 ist der lange erwartete zweite Band der
"Orbitor"-Trilogie (übersetzt bedeutet das ungefähr "Trilogie des
blendenden Lichtes") des großen rumänischen Autors Mircea Cărtărescu
erschienen. War schon der erste Teil der Trilogie "Die
Wissenden" ein harter und ergiebiger Brocken, so geht Mircea
Cărtărescu in "Der Körper" noch weiter. Ein Roman als Kunstwerk,
als überbordendes, nicht in irgendwelche auch noch so großzügig
bemessenen Beschreibungen passendes Kaleidoskop der Bilder, die, wenn
überhaupt, dann durch Hieronymus
Bosch, inspiriert sein könnten.
1956 in Bukarest geboren, ist Cărtărescu sicherlich der mit Abstand
fortschrittlichste und wichtigste Autor in Rumänien. Seine Literatur
ist, schon seit dem ersten Roman "Travestie"
und dem vor ungefähr zehn Jahren in deutscher Sprache erschienenen
Erzählungsband "Nostalgia", definitiv in die erste Reihe der
vielschichtigen und großen Literatur zu reihen.
Gleich auf den ersten Seiten lässt Cărtărescu seinen Helden Mircisor
Cărtărescu wie um die folgenden sechshundert Seiten vorzubereiten sagen:
"Ich könnte die überladene Architektur meines Lebens unmöglich
aufrecht erhalten, wäre ich nicht selbst voll und ganz
Sinnesorgan dafür ...". Knapp danach führt er diesen Gedanken dann
weiter, indem er den Bezug zu
Borges und dessen berühmter Erzählung "Das Aleph" herstellt. Die
Verschmelzung von Zeit und Raum als feinfühliges und nicht
kontrollierbares Sinnesorgan, eine Art Überauge.
Und so wird der Leser zum Zeugen der Wahrnehmungen des unentwegt nervös
weitersuchenden Sinnesorgans, das den Leser, ausgehend von einem sich im
ehemaligen Kinderzimmer des Protagonisten befindenden Bettkastens,
mitschleppt, von Idee zu Idee, unvorhersehbar und unermüdlich hektisch
schreitend, aber auch zielstrebig weiterführend.
Der Protagonist blickt, wie schon im ersten Teil "Die Wissenden",
hinunter auf die bereits bekannte Bukarester Stefan-cel-Mare-Chaussee,
mit den sich in purpurnen Sonnenuntergängen spiegelnden "kubistischen
Häusern". Eine Art kommunistischer Sozialrealismus der surrealen
Art, wenn man die Einordnung der Welt Cărtărescus irgendwie beschreiben
möchte.
Zu den stärksten Episoden dieses Romans gehören beispielsweise die, in
denen die Hirngespinste des Protagonisten verzerrte Bauwerke bzw.
Architekturen, Labyrinthe in Wohnblöcken oder alle möglichen
Schmetterlinge als überwältigende Opfertiere in das fressbereite Maul
einer Tarantel verschwinden lässt.
Wunderbar auch die "märchenhaften Blumen,
rätselhaften Tiere ... in unverständlichem Farbgewirr", die auf
dem von der Mutter geknüpften Teppich zu finden sind, der, in einen
Traumfänger verwandelt, als Verstärkung, als Fernrohr der Fantasie des
Autors als weiterer unerschöpflicher Helfer dient. Bedrohliche und
wuchernde Szenen wechseln sich mit absurden Bildern von
Geheimoperationen oder sowjetischen Kosmodromen, Bilder von Marilyn
Monroe und römischen
Kaisern ab. Das alles weitet sich immer mehr ins Paranoide aus,
mit allen möglichen unvorstellbaren Auswucherungen.
Immer wieder gleitet Cărtărescu auch in Erkundungen und Bereiche ab, die
sicherlich in gewissem Maße störend scheinen. Endlos scheinende
Ausschweifungen über Fraktale, Paraganglien und andere physiologische
Erforschungen machen es dem Leser in diesem wuchernden literarischen
Labyrinth nicht leichter. Allerdings scheint Mircea Cărtărescu hier sehr
bewusst vorzugehen, beim wiederholten Lesen merkt man, wie viele
Zusammenhänge bei den vorigen Lesungen verlorengegangen sind.
Und so ist dieser Zyklus möglicherweise nur dann wirklich verständlich
und ins Detail erkundbar, wenn man bereit ist, sich öfter und sehr lange
mit den Romanen, auch zwischen den Bänden querlesend, zu beschäftigen.
Der Autor schafft in diesem Werk einen eigenen Kosmos, der losgelöst vom
bisher gekannten sich nur mit viel Mühe und Aufwand dem Leser öffnet.
Cărtărescu fordert quasi eine bedingungslose Hingabe des Lesers, der
dann allerdings immens dafür belohnt wird.
Die Übersetzung von Gerhardt Cejka und Ferdinand Leopold ist virtuos und
immens überzeugend; unvorstellbar eigentlich, dieses literarische
Meisterwerk so in die deutsche Sprache zu übersetzen, man will nicht
glauben, dass das nicht das Original ist.
So bleibt dem Rezensenten nur mehr die Hoffnung, dass der dritte Teil
möglichst bald, wieder übersetzt durch die Herren Csejka und Leopold,
erscheinen wird.
(Roland Freisitzer; 02/2012)
Mircea Cărtărescu: "Der Körper"
(Originaltitel "Corpul")
Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold.
Zsolnay, 2011. 607 Seiten.
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