Andrea Camilleri: "Der Bahnwärter"
Man
hat den Eindruck, dass Andrea Camilleri mit fortschreitendem Alter
immer produktiver wird. Die Zahl seiner Neuerscheinungen in den
vergangenen Jahren ist kaum zu überblicken, und dennoch leidet
die literarische Qualität auf keiner einzigen Seite.
Der hier vorliegende bei Kindler verlegte kleine Roman mit dem Titel
"Der Bahnwärter" wurde in Italien schon im Jahr 2008
veröffentlicht und spielt an der
Südwestküste Siziliens, die der Leser aus den
"Montalbano"-Romanen schon kennt, in den Jahren ab etwa 1940. Der
Faschismus hat Italien bis in das letzte Dorf fest im Griff. Und doch
gibt es Widerstand, der sich pfiffig und klug, witzig und manchmal derb
immer wieder seinen Weg bahnt.
Protagonist des schlanken Romans ist der Bahnwärter Nino, der
an einer kleinen Schmalspurstrecke entlang der Küste seinen
Dienst versieht. Da nur wenige Züge pro Tag vorbeikommen, hat
er viel freie Zeit und macht zusammen mit einem Freund in der
nahegelegenen Stadt bei einem Barbier Musik.
Nino hat geheiratet, und beide Eheleute sind glücklich, als
Minica ein Kind erwartet. Aber dann passiert etwas, das der aufmerksame
Leser schon hat kommen sehen: Während der Abwesenheit Ninos
haben Männer immer wieder bei Minica geklopft, doch sie hat
niemanden eingelassen. Eines Tages aber verschafft sich ein Kollege
Ninos unter einem Vorwand Einlass bei Minica, vergewaltigt sie brutal
und prügelt sie fast zu Tode.
Im Krankenhaus kann ihr Leben gerettet werden, aber sie verliert ihr
Kind. Und auch ihren Verstand, wie Nino in den nächsten Wochen
und Monaten feststellen muss. Irgendwann stellt sie einen Eimer in den
Garten und benetzt mit dem Wasser ihre Füße. Auf
Ninos erstaunte Frage, warum sie ihre Füße nicht
gleich in den Eimer stelle, antwortet sie: "Wie sollen mir da
Wurzeln wachsen?"
Sie will ein Baum werden und Früchte bringen, eine in ihrem
wirren Geist verschobene Projektion ihres Kinderwunsches. Nino
beschließt, ihr zu helfen, und baut ihr aus
Holzpfählen ein Gerüst, in das sie sich beim
"Wachsen" stützen kann.
Gleichzeitig müssen sich Nino und seine Frau vor den immer
heftiger werdenden Tieffliegerangriffen der Alliierten
schützen, und er gerät zusammen mit seinem Freund
unter politischen Verdacht, weil sie bei ihren Auftritten beim Friseur
angeblich faschistische Lieder musikalisch verunglimpft hätten.
Doch mit Geschick und dem aus den "Montalbano"-Romanen
bekannten
sizilianischen Witz lösen sie nicht nur dieses
Problem, sondern auch an dem Mann, der Minica geschändet hat,
wird auf die dort übliche Weise Rache genommen.
"Der Bahnwärter" ist nicht nur ein Roman einer
großen Liebe, sondern auch eine große Schatzgrube
von Geschichten und Eindrücken aus dem Sizilien der
1940er-Jahre.
Der Rezensent hat das Buch in einem Zug gelesen und kann es nur
empfehlen.
(Winfried Stanzick; 03/2012)
Andrea
Camilleri: "Der Bahnwärter"
(Originaltitel "Il casellante")
Übersetzt von Moshe Khan.
Kindler, 2012. 153 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Das Ritual der Rache. Commissario Montalbano vermisst einen guten
Freund"
Im Umland von Vigàta liegt ein Toter in einem Plastiksack.
Wenig später taucht eine Frau im Kommissariat auf, die ihren
Ehemann als vermisst meldet.
Commissario Montalbano fühlt sich an eine Geschichte aus der
Bibel erinnert, an den Verrat des Judas. Denn: Der Leichnam wurde in
dreißig Teile zerstückelt, im sogenannten
Töpferland verscharrt, der Schuss in den Nacken deutet auf
Rache
wegen Verrats hin, und bei dem Toten handelt sich offensichtlich
um einen Fremden.
Die Tat eines bibelkundigen Mafioso? Oder nur die blühende
Fantasie eines Commissario? Eines weiß Montalbano jedenfalls
genau: Sein Vize Augello verhält sich derzeit ziemlich
merkwürdig und ist ihm nicht gerade eine Hilfe. Wie gut, dass
manchmal auch Bücher inspirierend wirken. Zum
Beispiel "Der zweite Kuss
des
Judas" - von Andrea
Camilleri ... (Lübbe)
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"Die
Münze
von Akragas"
Von der Zeit des antiken Sizilien bis zum Erdbeben von Messina im 20.
Jahrhundert: Camilleris Roman erzählt von einer kostbaren und
eigensinnigen Goldmünze, die ein Söldner aus Karthago
im Jahr 406 vor Christus verliert. Mehr als zweitausend Jahre bleibt
sie verschwunden. Im Jahr 1909 taucht die Goldmünze in einem
Feld im Süden von Italien wieder auf, wandert von Hand zu Hand
und bringt ihren Besitzern einmal Glück, dann wieder
Unglück. Mit dem ihm eigenen Humor erzählt Altmeister
Camilleri von einer abenteuerlichen Schatzsuche mit Dieben, Toten und
Verdächtigen, von einem Mysterium der Archäologie
und von der Schicksalhaftigkeit der Geschichte. (Nagel & Kimche)
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"Die Tage des Zweifels" zur Rezension ...