Momme Brodersen: "Klassenbild mit Walter Benjamin"
Eine Spurensuche
Der späte Triumph der
Archive
Walter
Benjamin gilt als einer der bekanntesten deutschen Philosophen,
Literaturkritiker und Übersetzer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Vor 120 Jahren wurde er geboren, vor 100 Jahren legte er die
Reifeprüfung an der Charlottenburger Kaiser-Friedrich-Schule ab. Sein
Leben ist bis hin zu seinem Selbstmord am 26. September 1940 im
spanischen Grenzort Port Bou, als ihm auf der Flucht in die USA die
Einreise nach Spanien verweigert wurde, gut dokumentiert und in
zahlreichen Biografien nachzulesen.
Aus seiner Abschlussklasse ist ein dunkles, an den Rändern unscharfes
Foto von zwanzig jungen Männern in ihren Schulbänken erhalten. Unklar
ist, wer von den Abgebildeten Walter Benjamin ist, oder ob er vielleicht
einer der beiden Klassenkollegen ist, die nicht abgebildet sind.
Der in Palermo lehrende Germanist Momme Brodersen macht dieses Bild zum
Ausgangspunkt seiner Entdeckungsreise durch die Archive - ganz im Sinne
des Benjamin-Zitats in der Gedenkstätte an seinem Sterbeort: "Schwerer
ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.
Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion
geweiht."
Was also wissen wir über die Schule, und wie verbrachten die anderen
einundzwanzig Abiturienten die nachfolgenden ruhelosen Jahre und
Jahrzehnte? Der Autor durchforscht das schulische Umfeld des berühmten
Berliners und stellt so sein Leben dem der weniger berühmten
Klassenkameraden gegenüber. Doch Menschen aus gänzlich unbedeutenden
Familien sind in dieser Lehranstalt kaum zu finden. Und auch die
Reifeprüfung an sich war damals selbst in der Großstadt ein so wichtiges
Ereignis, dass sogar Tageszeitungen darüber berichteten.
Über die Schule, ihre Lehrer und auch die Prüfungen geben Schulakten und
Jahresberichte bis heute erstaunlich detailliert Auskunft. Wir wissen
sogar, wann und wie lange einzelne Schüler während der Klausurarbeiten
auf dem Abort waren ...
Auch das historische Umfeld in der Hauptstadt des Wilhelminischen
Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs lässt sich unschwer
darstellen. Doch Momme Brodersen interessiert sich ganz besonders für
die auf dem Klassenfoto abgebildeten Menschen, die zumeist dem
Großbürger- und Beamtentum im Berliner Vorort angehörten.
Von den zweiundzwanzig jungen Männern waren dreizehn jüdischen Glaubens.
Der gesamte Jahrgang - außer Walter Benjamin - meldete sich 1914
freiwillig zum Heeresdienst. Fünf von ihnen überlebten den
Ersten
Weltkrieg nicht. In den Wirren der Weimarer Republik fanden sich
die Verbleibenden im gesamten politischen Spektrum des damaligen
Deutschland wieder. Während die jüdischen Mitschüler fliehen mussten
oder gar von den Nationalsozialisten ermordet wurden, traten einige der
NSDAP bei. Einige erlebten schließlich auch die zweite deutsche Diktatur
des Jahrhunderts, die DDR. Doch nur zwölf von zweiundzwanzig sterben
angesichts der Schrecken des 20. Jahrhunderts eines natürlichen Todes.
Die teils ausführlichen Biografien am Ende des Buches erstrecken sich
von der Geburt des ältesten Schülers im Februar 1892 bis zum Tod des
letzten im israelischen Exil im März 1988, also über fast ein
Jahrhundert. Da lebende Auskunftspersonen nur für jene wenige Männer zur
Verfügung stehen, die auch den
Zweiten
Weltkrieg überlebten, muss der Autor sein Wissen aus Militär-,
Universitäts- und Amtsarchiven, seltener aus Nachlässen beziehen.
Naturgemäß nehmen Familien und persönliche Angelegenheiten darin weniger
Raum ein.
Dennoch gibt Momme Brodersen den Namenlosen und fast Gesichtslosen auf
dem verblichenen Foto Biografien, lässt er aus überlieferten Namen
Geschichte und Geschichten entstehen, die persönliche Blicke auf die
schwierigsten Epochen deutscher Vergangenheit erlauben.
(Wolfgang Moser; 11/2012)
Momme Brodersen: "Klassenbild mit Walter Benjamin.
Eine Spurensuche"
Siedler Verlag, 2012. 235 Seiten.
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