Jonathan Steinberg: "Bismarck"

Magier der Macht


Ein Jongleur, dem die Teller am Ende doch herunterfielen

Ein Mangel an deutschsprachigen Bismarck-Biografien herrscht sicherlich nicht. Ein ganze Reihe berufener und sachkundiger Autoren hat sich mit diesem Ausnahmemenschen auseinandergesetzt, allen voran sicherlich Lothar Gall und Otto Pflanze. Doch was diese Biografie des anno 1934 in New York geborenen Autors Jonathan Steinberg interessant macht, ist, dass sie als Alterswerk eines bedeutenden us-amerikanischen Historikers gewissermaßen einen Blick von außen auf Mensch und Epoche ermöglicht.

Nach Napoleon war Bismarck der wirkungsmächtigste europäische Politiker des 19. Jahrhunderts. "Seine außergewöhnliche Machtfülle und seine politische Fortüne blieben bis heute erklärungsbedürftig", heißt es im Klappentext. Steinberg reduziert das Phänomen Bismarck auf dessen Persönlichkeit: "Deshalb ist das vorliegende Buch eine Lebensgeschichte Otto von Bismarcks, denn seine Macht beruhte nicht auf Institutionen, einer Massengesellschaft oder 'Kräften und Faktoren', sondern auf seiner Persönlichkeit. Sie beruhte auf der Souveränität eines gigantischen, außergewöhnlichen Selbst." Weiter heißt es: "Nur im Rahmen einer Biographie kann man den Versuch unternehmen, das Wesen dieser Macht [Bismarcks] zu ergründen. In der vorliegenden wird versucht, das Leben des Staatsmannes zu beschreiben und zu erklären, der Deutschland in drei Kriegen vereinte und zur Verkörperung all dessen wurde, was an der preußischen Kultur brutal und rücksichtslos ist."

Ziel des Buches sei es, schrieb Steinberg, "mir selbst und dem Leser zu erklären, wie Bismarck seine persönliche Macht ausübte." Die Methode bestehe darin, "diejenigen die Geschichte [...] erzählen zu lassen", "die die Kraft von Bismarcks Persönlichkeit aus der Nähe erfahren haben".

Das ist ein interessanter Ansatz, zumal die Zeitzeugen keine ex-post-Positionen besetzen können. Auch wenn die riesige Fülle von Zitaten einiges über Bismarck aussagt, so erfordern Zeit und Personenvielfalt eine Fülle einordnender Texte. Das gelingt dem Autor auch auf weiten Strecken des Buches in vorbildlicher Art und Weise. Während die für den deutschsprachigen Markt verfassten Biografien und Historiografien meist ein gerüttelt Maß an historischem Grundwissen und zunehmend auch ein paar flüssige Fremdsprachen voraussetzen, setzt Steinberg bei dem Wortspiel "extra centrum nulla salus" beispielsweise nichts voraus und erklärt Herkunft und Bedeutung des zugrunde liegenden "extra ecclesiam nulla salus". Das macht dieses Buch als Einstiegswerk in die deutsche Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so interessant, und man wünscht ihm auch viele Leser. Doch nicht alle erklärungsbedürftigen fremdsprachigen Zitate werden übersetzt und unterfüttert, wie das hübsche Wortspiel "ministre étranger aux affairs" zeigt, das auf den unbedarften Außenminister Marschall gemünzt war. Dass der "ministre des affaires étrangères", der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, zu einem auswärtigen (denn er war kein Preuße) Minister der Affären wurde, erschließt sich nur dem Leser mit Französischkenntnissen.

Wilhelm I. erfährt eine kaum nachvollziehbare Würdigung als "[...] freundlicher, anständiger, ehrenwerter und unprätentiöser Mann und letztlich unvergleichlicher Herrscher [...]". Es handelt sich bei diesem Heroen um einen Erzreaktionär, der Berlin 1848 mit Kanonen sturmreif schießen lassen wollte, der es ablehnte, eine Krone vom Parlament entgegenzunehmen, da er behauptete, von Gott berufen zu sein. Weniger gut hingegen lässt der Autor Fontane aussehen, dem er eine illiberale und gar antisemitische Grundhaltung attestiert. Eine Formulierung wie "Die Deutschen folgten Fontane in die Sklaverei, nicht Lasker in die Freiheit" ist reichlich polemisch. Gordon Craig kommt in seiner Fontane-Monografie zu einer deutlich positiveren Wertung: "[...] ich halte ihn aber nicht für einen Antisemiten." Legt man die Kommentare zu Wilhelm und Fontane nebeneinander, so scheinen die Maßstäbe ein wenig in Unordnung geraten zu sein.

Auch so ein Satz, der stutzen lässt: "Damit waren die beiden Grundelemente von Bismarcks Karriere zusammen: die Gewissheit, dass er in der Lage war, die politische Bühne zu dominieren, und die Gunst des Monarchen. Von September  1847 bis März 1890 besaß er stets beides." Das klingt, als hätten sich Bismarck und Wilhelm II. in bestem Einvernehmen getrennt, doch das Gegenteil war der Fall.

Wenn man Kritik übt an diesem Buch, so muss man diese aber ins Verhältnis setzen. Nahezu durchgängig ist diese Biografie wirklich gelungen, Steinberg erklärt viele Randpersonen und Nebenstränge der Epoche auf vorbildliche Weise und überfordert den Leser nur an wenigen Stellen. Umso stärker fallen jedoch die gelegentlichen Einordnungen auf, über die man mit Notwendigkeit stolpert.

Das führt zur nächsten Kritik an diesem Buch, an einem stellenweise leichtsinnigen Gebrauch (us-amerikanischer?) Superlative: Friedrich II. war laut Steinberg ein genialer König, Bismarck entwickelte auch Genie, auch Hitler wurde zu einem "Genie", später gar "Staatsmanngenie". Die propagierte Linie von Bismarck führt in der Rolle des Staatsmanngenies auf direktem Wege zu Hitler. Nein, Bismarck war kein Genie, doch was war er wirklich?

Was Bismarck so besonders macht, ist, dass er so schwer zu fassen ist. Man kann leicht aufzählen, wofür er verantwortlich und mitverantwortlich zu machen ist. Angetrieben von einem unbändigen Macht- und Gestaltungswillen, einem hohen Maß an Eitelkeit, Überheblichkeit. Ein überragendes Talent der Diplomatie, verschlagen und rücksichtslos, doch nicht in der Lage, sein Werk mit den elementarsten Sicherungen zu versehen, um es zukunftsfest zu machen. Er verbot zwar seinem Kaiser per Gesetz, an ihm vorbei mit den Ministern zu sprechen - außer über das Wetter: L'État, c'est Bismarck, der Dreh- und Angelpunkt des Deutschen Reiches. Doch er gestaltete ein System des Absolutismus, das sein Werk mit einem Federstrich hinwegzuwischen vermochte. Denn die Gewinne an Macht waren Werte, die, wie Theodor Mommsen das so treffend formulierte, "bei dem nächsten Sturm der Weltgeschichte wieder verlorengehen". Dies impliziert die Frage nach dem Ziel Bismarcks: Wäre das Reich das Ziel gewesen, so hätte er versucht es zu konstitutionalisieren, gegen absolutistische Federstriche zu immunisieren. Er hätte den Parlamentarismus gestärkt, den Kaiser konstitutionell gezähmt. Ein starkes konservatives Parlament, Frieden und ein gewisser Wohlstand für die Bevölkerung hätten das Reich gesichert. Doch Bismarck hielt sein politisches System in einer künstlichen Balance, die nur er zu sichern vermochte. Hitler hatte ein Ziel, Bismarck nicht, nur in den Mitteln ähnelten sie einander. Bei Bismarck war der Weg, sein Weg, das Ziel, die möglichst unauflösbare Verbindung von Werk und Person.

Ähnlich formuliert es auch Steinberg, denn Bismarck hatte es Steinberg zufolge in der Hand, "womöglich nach und nach ein parlamentarisches System" einzuführen. "Bismarck hätte die Macht teilen, Kompromisse eingehen und Opposition als ein wesentliches Element des politischen Lebens anerkennen müssen." Das sind diese ex-post-Konjunktive, die selbst noch für 1930 gegolten hätten und am Ende niemandem nützen. "Wäre das denn noch Bismarck gewesen?", ist man geneigt, einen weiteren überflüssigen Konjunktiv in die Welt zu setzen.

Aus der Unmenge an Zitaten seien drei herausgegriffen:
Der Historiker Treitschke war von Bismarck beeindruckt, meinte jedoch nach dem persönlichen Kennenlernen: "Von den sittlichen Mächten in der Welt ahnt Bismarck rein gar nichts." Doch wir Nachgeborenen hätten zu Treitschkes sittlichen Kompetenzen auch noch ein paar Fragen gehabt, möchte der Rezensent anmerken.
Ein österreichischer Diplomat wird zitiert: "Wir appellieren an edle Gefühle: Patriotismus, Ehre, Rechtsprinzipien, Tatkraft, Mut, Entschluß, Unabhängigkeitsgefühl usw. usw. usw. Er [Bismarck] rechnet mit den niederen Triebfedern menschlicher Natur: Eigennutz, Schadenfreude, Feigheit, Rat- und Tatlosigkeit, Mangel an Entschluß und Borniertheit."
Der Kulturkampf brachte noch einen interessanten Aspekt zutage, den Steinberg als Zitat Lord Granvilles anführt: "[...] Da er [Bismarck] sich noch für unfehlbarer hält als den Papst, kann er zwei Unfehlbarkeiten in Europa nicht dulden und stellt sich vor, er könne den nächsten Papst auswählen, wie er einen preußischen General aussucht." "1876 befanden sich sämtliche [katholischen] preußischen Bischöfe in Haft oder im Exil", schreibt Steinberg.

In den Schlussbetrachtungen schreibt Steinberg: "Als Bismarck aus dem Amt schied, hatte sich die Servilität des deutschen Volkes so weit verfestigt, dass es sie für lange Zeit nicht mehr ganz abstreifen konnte."

Es sei am Ende noch einmal betont, dass die vorliegende Biografie ganz überwiegend wirklich ein besonderes Werk ist, das seinen Platz finden wird. Handwerklich hervorragend, bestenfalls durch die eine oder andere Landkarte zu ergänzen, welche die Vorsatzblätter zieren könnten.
Über die Übersetzung lässt sich auch nur Gutes sagen, Kompliment!

(Klaus Prinz; 11/2012)


Jonathan Steinberg: "Bismarck. Magier der Macht"
(Originaltitel "Bismarck's Foreign Self")
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt.
Gebundene Ausgabe:
Propyläen Verlag, 2012. 745 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
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