Luigi Bartolini: "Fahrraddiebe"
Langatmige
Hatz nach einem gestohlenen Fahrrad
Wenn man Luigi Bartolini (1892-1963, Lyriker, Erzähler, Maler
und Kupferstecher) Glauben schenken mag, dann genießen Diebe
bei vielen Bewohnern Roms großes Verständnis, ja
sogar Zuneigung und Sympathie. Wen wundert es, denn Bartolini
behauptet: "In Rom gewinnt man nichts mit Leistung und
Begabung, man kommt nur zu was durch Gaunerei und Betrug."
Nun hat Diebstahl ja auch eine lange Tradition in der "Ewigen Stadt",
schon die frühesten Bewohner Roms waren Diebe, Frauendiebe,
sie raubten die Frauen der Sabiner. Der Autor über den
geschichtlichen Hintergrund römischen Diebes- und anderen
Gesindels: "Doch will ich auf mein Thema
zurückkommen, das den Dieben gewidmet ist und dem menschlichen
Abschaum, dem Bodensatz der Hefe, der in Rom von den Zeiten des Marius
und Sulla bis zu denen Mussolinis der gleiche blieb. Und leider auch
heute noch vorhanden ist." Und Bartolini geht in seiner
zynischen, polemischen Art noch weiter, wenn er wie folgt Bezug nimmt
auf die Tatsache, dass während des Zweiten Weltkriegs zuerst
deutsche, später us-amerikanische Soldaten neue Römer
in die Welt setzten: "... war doch der Fall nicht selten,
dass ein Amerikaner in ein Gefäß schöpfte,
das noch von deutscher Flüssigkeit feucht war. Im
Übrigen ist es besser, dass Deutsche oder Amerikaner geboren
werden als uralte römische Bastarde."
Mit solchem Gelumpe bekam es Luigi Bartolini also zu tun, als er
hilflos mitansehen musste, wie ihm mitten in
Rom
sein neues Fahrrad gestohlen wurde, während er in einem Laden
nach einer Dose mit schwarzer Schuhwichse fragte. Es ist die Zeit kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg, die Verhältnisse sind chaotisch,
der Schwarzmarkt floriert, und die Polizei sieht natürlich
keinen Anlass, einzuschreiten, wenn jemandem das Fahrrad geklaut wird.
Also nimmt der bestohlene Luigi Bartolini die Sache selbst in die Hand
und lässt nichts unversucht, um sein gestohlenes Fahrrad
möglichst schnell wieder zu bekommen. Dazu begibt er sich
direkt in die Höhle des Löwen, auf die Piazza del
Monte, den Hauptsammelplatz aller Diebe und Gauner.
Aber nur allzu langsam nimmt die Handlung Fahrt auf, wie es sich bei
"Fahrraddiebe" überhaupt um einen wenig handlungsorientierten
Roman handelt. Die zahlreichen Rückblenden und
Einschübe in den erzählerischen Fluss erschweren das
Lesen zusätzlich. Alles in allem eine ziemlich langweilige
Geschichte, notdürftig literarisch veredelt durch einen
sprachmächtigen Autor, der seinen Text zwar auch mit
bemerkenswerten Gedanken anreichert und auch stark mit zeitbezogenen
Themen verknüpft, doch über weite Strecken
erschöpft sich der Text leider in nichtssagendem Leerlauf.
Wirklich lesenswert ist das Buch jedoch an den Stellen, wo Luigi
Bartolini Bilder entwirft, die wie Röntgenaufnahmen einer
zutiefst pathologischen Gesellschaft wirken. Mit viel Polemik und
Arroganz geht er hier zu Werke. Auch wegen dieser Arroganz bleibt der
Leser in einer Beobachterrolle, auf Distanz sozusagen und verliert
keine Emotionen an den Autor und dessen Probleme.
Ausnahmsweise sei das Ende der Geschichte hier schon einmal verraten:
Dem bestohlenen Luigi Bartolini gelingt es, den Dieb ausfindig zu
machen. Schließlich zahlt er dem Gauner noch 5000 Lire, um
sein gestohlenes Fahrrad auszulösen, das er einst für
15000 Lire erstanden hat. Er tut dies "zur Buße
seiner Schuld als Dichter", wie Luigi Bartolini
erklärt. Wessen fühlt er sich schuldig? Er hat dem "Menschengetier"
nicht oft genug eingehämmert:
"Macht keinen Krieg!"
(Werner Fletcher; 06/2012)
Luigi
Bartolini: "Fahrraddiebe"
(Originaltitel "Ladri di biciclette")
Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig.
Unionsverlag, 2012. 218 Seiten.
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Luigi
Bartolini war als Gegner des Faschismus
zeitweise inhaftiert. Nach dem
Krieg wurde er als Professor an die Kunsthochschule in Rom berufen.
"Fahrraddiebe" wurde von Vittorio de Sica verfilmt.
Weitere Lektüretipps:
Antonio
Scurati: "Eine romantische Geschichte"
Der Roman spielt in zwei kunstvoll miteinander verzahnten Zeitebenen:
In Mailand proben junge Aristokraten den Aufstand gegen die
Österreicher. Fünf Tage lang dauert die Revolution im
Jahr 1848. In diesen fünf Tagen gewinnt ein Volk seine
Freiheit und ein Mann das Herz einer Frau. die Frau jedoch ist mit
seinem besten Freund verlobt. Eine verbotene Liebesgeschichte nimmt
ihren Lauf. Vier Jahrzehnte später, im Jahr 1885, wird der
frühere Revolutionär und inzwischen korrupt gewordene
Senator Italo Morosini durch ein ihm zugespieltes Manuskript gezwungen,
auf das gut gehütete Geheimnis seiner Ehefrau Aspasia
zurückzublicken, auf die heimliche amour fou. Sein Leben,
seine Ehe, all seine Gewissheiten zerbröckeln. Was ist aus den
Hoffnungen der Revolution und den Herzensangelegenheiten geworden? Die
Bilanz ist ernüchternd. doch als die Drei wieder
zusammentreffen, flammen unerwartet die alten Gefühle auf.
In diese leidenschaftliche Liebesgeschichte vor historischem
Hintergrund hat Antonio Scurati gekonnt versteckte Zitate aus der
Weltliteratur eingeflochten - von Victor
Hugo, Eugenio Montale, Ernest Hemingway,
Virginia
Woolf, Leo
Tolstoi,
Bertolt
Brecht und vielen mehr. So wird die Lektüre zu einem
postmodernen Rätselspiel. (Rowohlt)
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Carlo
Fruttero: "Ein Herr mit Zigarette. Erinnerungen"
Ein Märchenschloss, in dem der junge Carlo das Lesen entdeckt
... Das Lied von den Chiffonunterhosen ... Ein Herr mit Zigarette ...
Aus zahlreichen funkelnden literarischen Juwelen entsteht eine
vielschichtige, charmante Autobiografie des italienischen
Grandseigneurs.
"Dies ist keine klassische Autobiografie, keine Lebensbeichte
à la Rousseau.
Man hat mich halt gefragt - zu meiner ersten
Zigarette, zu den zotigen Sprüchen der Kinder, zu
piemontesischen Schlössern, dazu, warum ich um Himmels willen
die Hochkultur für die Niederungen des Krimis aufgegeben habe,
zu meinem Verhältnis zu Italo Calvino, Franco Lucentini,
Pietro Citati - und so weiter und so weiter. Und so entstand dieses
Buch ganz beiläufig, ja zufällig, und es verschweigt,
wie bei den meisten anderen Menschen auch, viel mehr, als es
erzählt ..." (Carlo Fruttero).
Carlo Fruttero, geboren 1926 in Turin, hat zusammen mit Franco
Lucentini (1920-2002) viele sehr erfolgreiche Kriminal- und
Gesellschaftsromane geschrieben, darunter "Die Sonntagsfrau", "Wie weit
ist die Nacht" und "Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz". Mit "Frauen,
die alles wissen", seinem ersten kriminalistischen Alleingang, gelang
Carlo Fruttero anno 2006 in Italien eine sensationelle
Rückkehr.
Im Jänner 2012, wenige Monate vor dem Erscheinen seiner
autobiografischen Notizen "Ein Herr mit Zigarette" in deutscher
Übersetzung, starb Carlo Fruttero in der Toskana. (Piper)
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