Aharon Appelfeld: "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen"


Dieses Buch Aharon Appelfelds, in Israel anno 2010 erschienen, ist in einer Reihe zu sehen mit den beiden anderen sehr stark autobiografisch geprägten Romanen des Autors, "Tzili" und "Geschichte eines Lebens". Diese sind wunderbare Zeugnisse der Menschlichkeit. Aharon Appelfeld beschreibt in seinen Büchern sein Leben. Er gehört zur Generation jener Juden, die als Kinder den Holocaust überlebt haben, und nun, über 60 Jahre danach, den Versuch wagen, zu beschreiben, was diese schrecklichen Erfahrungen für ihr Leben bedeuten.

Appelfelds Versuche, auch in dem hier vorliegenden Buch, sind ist in höchstem Maße gelungen. Man hat selten Bücher gelesen, die in einer so poetischen Sprache eigentlich Unsagbares beschreiben. Trotz aller bitteren Erfahrung durch von Menschen zugefügtes Leid an sich selbst und an Anderen, hält Appelfeld bis in sein Alter auch in seiner neuen Heimat Israel an seiner Überzeugung fest, dass es sich lohnt, an der Menschlichkeit des Menschen festzuhalten. Sein unbezwingbarer Wille zur eigenen Unabhängigkeit von Moden und Meinungen überzeugt und macht Mut, auch in schwierigen Zeiten an Ideen wie Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu glauben.

„Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ beschreibt die Zeit, als der knapp vierzehnjährige Erwin mit einem Treck von Flüchtlingen ziellos durch Europa irrt, auf Zügen und auf Pferdewagen. Erwin bekommt von dieser neuerlichen Odyssee, (die erste hatte er ja glücklich überlebt, wie man in den beiden oben genannten Büchern  eindrucksvoll und bewegend nachlesen kann), kaum etwas mit, denn er schläft fast ununterbrochen. Die anderen Flüchtlinge kümmern sich um ihn, tragen ihn über lange Strecken und retten ihm so erneut das Leben. Noch Jahre später werden ihn Menschen in Israel erkennen als den schlafenden Jungen, als den „Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“.

Im Schlaf hält Erwin das fest, was er verloren hat, seine Mutter, seinen Vater, der immer ein guter Schriftsteller sein wollte und dessen Manuskripte von allen Verlagen abgelehnt wurden, seine Heimat in der Bukowina. Er wird über viele Jahre seines Lebens immer wieder im Schlaf in seinen Träumen zu seinen Eltern zurückkehren, mit ihnen  sprechen und sich so Kraft und Orientierung für das Leben holen, das ihm bevorsteht und das er sich erträumt.

Zunächst nimmt er, mit dem Treck in Neapel eingetroffen, 1946 zusammen mit anderen jungen jüdischen Flüchtlingen, in einem Lager an einem Vorbereitungskurs der Hagana teil. Der Leiter des Kurses, Ephraijm, wird zu einem Lehrer und Freund, der ihm immer wieder erlaubt, ganze Tage schlafend zu verbringen. Sie werden ertüchtigt und vorbereitet auf die Ausreise nach Israel, die nach vielen Monaten und erheblichem Widerstand vor allem der Briten endlich gelingt.

Erwin, der mittlerweile den Namen Aharon angenommen hat, kommt zusammen mit Ephraiijm und anderen jungen Juden in einen Kibbuz. Dort sollen sie zu optimistischen, sozialistisch gesinnten, der Zukunft froh entgegensehenden „neuen Juden“ erzogen werden. Sie arbeiten hart, lernen Hebräisch und sind schon vor 1948 dauernd durch Angriffe aus den umliegenden Dörfern der Araber bedroht.

Bei einem Einsatz gegen die Feinde wird Erwin/Aharon eines Tages, noch vor dem Unabhängigkeitskrieg 1948, schwer verletzt und kommt in ein Krankenhaus. Dort wird Dr. Winter, der ihm über fast zwei Jahre zum väterlichen Freund wird, erfolgreich versuchen, durch unzählige Operationen seine Beine zu retten.

Erwin beginnt, zunächst einzelne Buchstaben, dann ganze Kapitel abschreibend, nicht nur Hebräisch zu lernen und die Bibel zu lesen, sondern er taucht immer mehr in den Geist der Buchstaben und der alten Weisheiten der Väter ein. Er lässt sich auch durch die Kritik seiner Freunde, die ihn immer wieder in der Klinik besuchen, nicht beirren. Während diese die Religion und die alte heilige Sprache der Väter als überholt abtun, als etwas, was man im neuen Israel nicht mehr brauchen könne, findet er dort seinen Weg, im Schlaf, in seinen Träumen und den in ihnen hervorbrechenden Erinnerungen, das so Bewahrte zu retten.

Und irgendwann, nach langem Warten nicht nur auf das Gesunden des Beines, sondern auch seiner Seele, gelingt es ihm, erste Texte zu schreiben und so in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Auf schreibende Weise wird Aharon Appelfeld bis in sein Alter hinein versuchen, das Unsagbare zu beschreiben und so die Erinnerung daran wachzuhalten. Und er wird es mit seiner poetischen Sprache,  mit jedem seiner unzähligen Bücher erneut tun in der Überzeugung, dass es sich lohnt, an der Menschlichkeit des Menschen festzuhalten.

(Winfried Stanzick; 01/2012)


Aharon Appelfeld: "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Rowohlt Berlin, 2012. 282 Seiten.
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