Aravind Adiga: "Letzter Mann im Turm"
David
und Goliath in Bombay
Als Aravind Adigas Debütroman "Der
weiße
Tiger" vor nun dreieinhalb Jahren erschien,
war, schon bevor dieser Roman den "Booker Preis" gewonnen hatte,
eindeutig klar, dass hier ein ganz großes
Erzähltalent soeben seine literarische Feuertaufe mit Bravour
bestanden hatte. War der Schelmenroman "Der weiße
Tiger" noch berstend vor exotischem Lokalkolorit und einer sich
gefühlt ungebremst entladenden spannenden, sozialkritischen
Geschichte, dessen "Massentauglichkeit" viele Kritiker
abgestoßen hatte, so ist der zweite Roman, nach dem
Erzählungsband "Zwischen
den
Attentaten", des indischen Autors ein doch viel
spröderes, zugleich auch reiferes Werk.
In Bombays Stadtteil Vakola, der bereits teilweise entwickelt ist,
obwohl er von Slums geprägt ist, stehen
die beiden Türme der "Vishram Society",
ein innovatives und bereits seit gut einem halben Jahrhundert stehendes
Genossenschaftsbauprojekt, dessen Bewohner sich mehr oder weniger mit
den Widrigkeiten des Lebens in der Gegend abgefunden haben. Man
wäscht sich dann, wenn es warmes Wasser bzw.
überhaupt Wasser gibt, man benutzt einfach die Stiege, wenn
der Aufzug monatelang nicht repariert wird. Die trotz alledem gerne
hier wohnenden Wohnungsbesitzer treffen sich auf regulärer
Basis in Versammlungen, um allfällige Probleme,
Änderungen, Verbesserungen und andere Themen zu besprechen.
Ohne Eile lässt Aravind Adiga den Leser am Leben der
Wohnungsbesitzer teilhaben und stellt die Figuren somit vor.
Alles läuft gut, bis der korrupte, fette Immobilienhai Dharmen
Shah auftaucht, der fast ein alter ego des Bahram Halwai sein
könnte, der sich in den Kopf gesetzt hat, auf dem
Gelände der "Vishram Society" eine
Luxuswohnanlage zu errichten. Der aus ärmsten
Verhältnissen stammende Shah ist ein brutaler, zynischer
Mensch, der gerne glaubt, dass er alles zum Wohl der Menschen macht,
die er "lieber als den Stahl und den Zement hat",
mit dem er seine Anlagen errichtet. Er unterbreitet den Bewohnern der
"Vishram Society" ein großzügiges
Angebot, das allen Bewohnern nicht nur erlauben würde, eine
schönere Wohnung in einer besseren Gegend zu kaufen, sondern
auch einen Gewinn mitzunehmen. Während die Bewohner im Turm A
sofort zustimmen, sind im Turm B fast alle bereit. Durch ein wenig
bessere Angebote sind aber auch im Turm B bald alle umgestimmt, vor
allem, weil fast alle wirklich gute Gründe haben oder finden,
einer Verbesserung ihrer Wohnverhältnisse zuzustimmen.
Alle, bis auf Einen. Der alte, pensionierte Lehrer Yogesh Murthy, von
allen Masterji genannt und als Gelehrter und Gentleman
respektiert, lässt sich durch kein noch so gutes Angebot
umstimmen.
Aus dieser Situation entwickelt Aravind Adiga nun einen eindringlichen
Kampf ums Überleben und den Sieg der Moral auf der einen
Seite, während es auf der anderen Seite darum geht, auch den
letzten Starrkopf zu besiegen, um das Projekt und den daraus
resultierenden Gewinn nicht zu gefährden. Ein ungleicher
Kampf, quasi David
gegen
Goliath, der natürlich nicht so
ausgehen kann, wie man als Leser auf mehreren hundert Seiten hofft.
Nicht umsonst brüstet sich der Immobilienmann damit, dass "ein
Bauherr der einzige Mann in Bombay ist, der nie einen Kampf verliert."
Alles ist also käuflich, die Polizei, die Justiz, die Presse,
die Politik, die Nachbarn und am Ende auch die letzten Freunde und der
Sohn des offensichtlich starren und uneinsichtigen alten Mannes.
Die Motivation Masterjis, nicht zuzustimmen, ist vielseitig und
vielleicht auch die einzige (kleine) Schwachstelle von Aravind Adigas
großem Roman. Einerseits sind da die Erinnerungen an seine
verstorbene Frau und an die verunglückte Tochter, eine nicht
unwichtige Portion eines Altersstarrsinns, der fehlende Wille,
Veränderungen zuzulassen, schon gar nicht, wenn diese
erzwungen werden, aber auch, und das vielleicht sogar vorrangig, der
Sinn für menschlichen Anstand und die ökologischen
Probleme der Stadt, die durch einen Neubau der Luxusklasse in Vakola
noch verschärft würden.
Da Masterji mit zunehmendem Druck immer sturer und entschlossener wird,
dem Shah zu widerstehen, wächst der Druck der Mitbewohner und
Freunde auf den alten Mann, bis es zu gemeinen, unschönen und
grausamen Szenen kommt, die eindrucksvoll vorführen, wozu
Menschen bereit sind, wenn es um den eigenen Gewinn und Vorteil geht.
Wie tief man fallen kann, wenn man die Grenze der Ethik und Anstands
überschreitet.
Die Übersetzung von Susanne Urban und Ilija Trojanow ist sehr
gut, obwohl teilweise etwas zu brav. Möglicherweise ist aber
eine wirklich überzeugende Übersetzung aus dem
teilweise doch sehr indischen Englisch des Originals, das doch eine
ganz andere sprachliche Färbung hat, unmöglich.
"Letzter Mann im Turm" ist nicht so rasant und jugendlich frisch wie
"Der weiße Tiger", andererseits ist es ein Schritt in neue
Sphären, der sich schon in "Zwischen den Attentaten"
angekündigt hatte und hier meisterlich vollzogen wird. Aravind
Adiga hat einen großen Roman vorgelegt, der sich
risikofreudig am Format und der Größe eines Fjodor
Dostojewski misst. Auch wenn er die seelischen
Abgründe des großen Russen nicht ganz erreicht, so
ist dieser Roman mehr als beeindruckend und
überzeugend.
Eine absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 01/2012)
Aravind
Adiga: "Letzter Mann im Turm"
Übersetzt von Ilija
Trojanow und Susann Urban.
C.H. Beck, 2011. 515 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Der Audio Verlag, 2011.
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die Welt zu einem neuen Bild formt. So fasst er Fuß in der
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und Seefahrer, einem Schmelztiegel von Portugiesen und Genuesern, Juden
und Arabern. Vom großen Wissensdrang der Zeit wird
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und rechnend bereitet er mit dem Bruder acht Jahre lang die
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