Vladimir Zarev: "Feuerköpfe"
Die Irrungen und Wirrungen
der Weltschevs im sozialistischen Bulgarien
"Feuerköpfe" ist nach "Familienbrand" der zweite Teil der
"Weltschev"-Trilogie von Vladimir Zarev.
Widin, eine kleine, verschlafene Provinzstadt in Bulgarien, 1946. Der
Krieg ist zu Ende, diejenigen, die mit den Deutschen sympathisiert
hatten, sind jetzt die Gejagten. Der Sozialismus soll alles bestimmen.
Vladimir Zarev zeichnet ein großflächiges Bild einer ganzen Epoche, von
1946 bis tief in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Dabei lässt er
eine ganze Armee von Protagonisten auftreten, Menschen, die irgendwie
verwandt sind oder miteinander zu tun haben. Anhand der Entwicklung
seiner Protagonisten zeichnet er ein detailgenaues Bild der
Entwicklung Bulgariens nach dem Zweiten Weltkrieg.
Vladimir Zarev folgt dem unehelichen Sohn Ilija Weltschevs, Krum
Marijkin, auf seinem Weg. Krum Marijkin ist einer der jungen Männer, die
sich durch nichts auf ihrem Weg, die Menschen zum Sozialismus zu
bekehren, aufhalten lassen. Unermüdlich kämpft er für diesen Zweck.
Der ehemalige Untergrundkämpfer Assen Weltschev, auch Kousin von Krum
Marijkin, erhält ebenfalls seine Chance auf Erfolg, kann diese aber
letztendlich nicht nutzen, da er nicht skrupellos genug ist.
Zarev zeichnet immer wieder herrlich komische Szenen, wie zum Beispiel
die Motorradszene gleich zu Beginn, als Krum Marijkin sich das von allen
vergessene Motorrad mit Beiwagen einverleibt, repariert und mit einigen
Beulen autodidaktisch das Motorradfahren erlernt. Eine Art
Situationskomik, die fast etwas grotesk Surreales hat, eine ganz
eigenartige Ästhetik des Komischen.
Anhand der vielen Lebenslinien, die man als Leser hier verfolgt, führt
Vladimir Zarev die einfältige sozialistische Weltanschauung aufs
Glatteis und zeigt, wie einfach es ist, bei Mangel an Skrupeln eine
glanzvolle Karriere zu machen, aber auch wie unmöglich es ist, diese zu
machen, wenn man nicht skrupellos genug ist, um sich der Ideologie
würdelos zu unterwerfen.
Enteignungen, Liebesgeschichten, Betrug, Ehebruch, Freundschaften,
parteifreundliche Blindheit und systembedingte Ohnmacht; das sind die
Hauptzutaten dieses 700-Seiten-Wälzers, der die Geschichte Bulgariens im
dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts aus fast allen Perspektiven
beleuchtet.
Vladimir Zarevs sehr elegante Prosa ist pointiert und sehr präzise, aber
immer wieder auch um eine Spur zu narzisstisch und repetierend, speziell
an den Stellen, wo der Autor besonders ironisch auf die Irrungen des
Systems hinweisen will. Dadurch geht eine Trennlinie zwischen Autor,
Text und Leser verloren, die geholfen hätte, die sowieso schon
pittoresken Geschichten vom etwas überheblich weisenden moralischen
Zeigefinger zu befreien.
Die Dichte und häufige Sprunghaftigkeit der Handlung helfen dem
Lesefluss des Romans auch nicht besonders, obschon Zarevs Prosa recht
stringent und temporeich ist.
Nichtsdestotrotz ist "Feuerköpfe" am Ende ein wichtiger Roman, ein
Lesevergnügen mit kleineren Einschränkungen, dem man doch gewillt ist,
bis zum Ende zu folgen, auch wenn die immer wieder auftretenden
Übersättigungsmomente von Zeit zu Zeit etwas störend erscheinen.
(Roland Freisitzer; 09/2011)
Vladimir Zarev: "Feuerköpfe"
(Originaltitel:
"Izhodat")
Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm.
Deuticke, 2011. 701 Seiten.
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Vladimir Zarev, geboren 1947
in Sofia, ist Autor von bislang insgesamt fünfzehn Romanen, Erzählbänden
und Sachbüchern. Auf Deutsch erschien 2007 der Roman "Verfall" und 2009
bei Deuticke als erster Teil der "Weltschev"-Trilogie der Roman:
"Familienbrand"
Vladimir Zarev, den nicht nur Dimitré
Dinev als einen der wichtigsten Autoren in Bulgarien ansieht,
erzählt im Roman "Familienbrand" die Familiengeschichte der Weltschevs.
Petruniza, die Witwe des alten Assen
Weltschev, lebt mit ihren fünf Kindern in Widin, einer
verschlafenen Kleinstadt am Unterlauf der Donau.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird auch Widin in den Strom der Politik
gerissen; in diesen unruhigen Zeiten suchen die Brüder Weltschev ihr
Glück auf unterschiedliche Weise: Panto macht Karriere als Bankier,
Ilija als Fabrikant und Ausbeuter. Christo, der sich für den Sozialismus
begeistert, wird zum Helden wider Willen, und Jordan will eine Kirche
bauen, einen Ort der Buße, doch es wird eine Raststätte, ein Ort der
Muße für Sünder aller Art. Die Zukunft aber, die kann nur Jonka
erkennen, die als Einzige in der Familie hellseherische Fähigkeiten hat.
Ein großes Epos aus Bulgarien im 20. Jahrhundert. (Hanser)
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Noch ein Buchtipp:
Martina
Baleva: "Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in
der Kunst des 19. Jahrhunderts"
Die populärsten
Nationalbilder der Länder auf dem Balkan wurden im 19. Jahrhundert durch
ausländische Künstler geschaffen. Bislang wurde diese Schlüsselrolle
fremder visueller Medien und ihrer Urheber für die Konstruktion
nationaler Selbstbilder in der kulturgeschichtlichen Forschung kaum
thematisiert. Dies gilt auch für das Bild Bulgariens. Die Studie
analysiert am Beispiel des 1878 gegründeten Nationalstaats die
intervisuellen Austauschprozesse zwischen dem westlichen Europa und dem
Balkan sowie die intermedialen Kontexte der illustrierten Presse, der
Historien- bzw. Ereignismalerei sowie der Fotografie als die
herausragenden Medien in diesem Prozess. (Böhlau)
Zwei Bücher anderer
bulgarischer Autoren:
Christo Karastojanow:
"Teufelszwirn"
Das bislang bedeutendste Werk von Christo Karastojanow ist die Trilogie
"Teufelszwirn". Die Handlung spielt in einer Kleinstadt vor dem
Hintergrund des für Bulgarien traumatischen Jahres 1923/24. Die Politik
einer sozialen Marktwirtschaft, maßvoller gesellschaftlicher Reformen
und der Aussöhnung mit Serbien durch den damaligen Premier Stambouliski
hatte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt, aber auch zu einer
unversöhnlichen Opposition seitens konservativer Kreise.
Der Mord an Stambouliski im Jahr 1923 stürzte das Land in ein Chaos und
in eine Orgie von Gewalt.
Karastojanow erzählt die miteinander verknüpften Geschichten einer Reihe
von Bürgern in einer Provinzstadt, die - oft ohne es zu wollen - in den
Strudel der Ereignisse mitgerissen werden.
Der Autor wurde 1950 in Topolowgrad geboren. (Dittrich Verlag)
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Palmi Ranchev: "Der Weg nach Sacramento"
"Der Weg nach Sacramento" ist nach Einschätzung des Autors sein bislang
gelungenstes Werk. Der Roman malt ein ungeschminktes Bild von Bulgarien
kurz nach der Wende, eine Zeit der Massenarmut, der Massenverstörung.
Eine Geschichte von jungen Menschen in der Hauptstadt Sofia, die, jeder
Hoffnung und Zukunft beraubt, Drogen
konsumieren und verkaufen. Und auch eine Geschichte der
Vergangenheitsbewältigung und des Erwachsenwerdens, obwohl für den
jungen Protagonisten am Ende nur die Emigration eine Lösung seiner
Probleme verspricht.
Der zwanzigjährige Pavel lebt nach Beendigung seines Militärdienstes bei
seiner Großmutter in einem Plattenbauviertel Sofias, da er zu seiner
Mutter, einer gestörten promiskuitiven Frau, nicht zurückkehren möchte.
Pavel indes hat ein ganz spezielles Problem: Er ist noch Jungfrau, ein
Zustand, den er so bald wie möglich beenden möchte. Er verliebt sich in
die drogensüchtige Marianna und schließt sich, um sie zu gewinnen, ihrer
Clique an, eine Gruppe von jungen Drogensüchtigen. Parallel zur
Gegenwartshandlung wird die Geschichte des Vaters erzählt und dessen
Leben im us-amerikanischen Exil seit seiner Flucht im Jahr 1970. Gegen
Ende des Romans bringt sich Marianna um, als einer ihrer Geliebten von
der Mafia ermordet wird. Pavel selbst wird von der Drogenmafia verfolgt.
Da erfährt er, dass sein Vater in den USA gestorben ist und ihm Geld
hinterlassen hat, wodurch er die Möglichkeit bekommt, Bulgarien und dem
organisierten Verbrechen zu entkommen - Richtung Sacramento.
Palmi Ranchev wurde 1950 in Sofia geboren. Er war in seiner Jugend einer
der führenden Amateurboxer Bulgariens. 1981 wurde er Trainer und führte
eine ganze Reihe von Boxern bei Weltmeisterschaften und Olympischen
Spielen auf Medaillenränge. Später arbeitete er als Direktor einer
Zeitung und als freier Journalist. In erster Linie ist er jedoch schon
seit langem Schriftsteller, der mit seinen klugen und literarisch
hochwertigen Romanen und Erzählungen die
von Korruption und Verbrechen durchsetzte bulgarische Gesellschaft
schildert. (Dittrich Verlag)
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