Urs Widmer: "Stille Post"

Kleine Prosa


Literarisches Kleinholz von zündender Wirkung

"Liebe Freundinnen und Freunde. Kommen Sie mit. Buchen Sie jetzt unter www.widmerreisen.ch, oder schieben Sie mir diskret Ihre Kreditkarte unter meiner Haustür zu. Codenummer nicht vergessen. Danke." So lauten die letzten, an seine Leser gerichteten Zeilen aus Widmers kurzer Reiseerzählung "In Timbuktu", die sich unter zehn anderen in diesem Band findet. Mein Vorschlag: Der reiselustige Leser mag sich doch einfach nur dieses Buch zulegen, um Urs Widmer auf dessen Reisen zu begleiten, so kommt es ihn immerhin billiger und bequemer. Widmer wandelt jedoch auf verschlungenen Pfaden, seine Reisen gehen in vom Diesseits abgekehrte Welten, in Sphären subjektiver Innerlichkeit. Momentaufnahmen, Schatten von Flüchtigkeit huschen an dem Mitreisenden vorbei, dazu lässt der Autor all die schillernden Facetten des Paradoxen am inneren Auge des mitreisenden Lesers vorüberfliegen. Nicht alle dieser Geschichten aus "Stille Post" aber handeln vom Reisen, und der Schweizer Urs Widmer zeigt sich hier wieder einmal als ein Erzähler von staunenswerter Fruchtbarkeit.
Hinter "Stille Post", der titelgebenden Geschichte zum Beispiel, verbirgt sich ein Kinderspiel, das hier auf einen literarischen Text angewandt wird. In anderen Erzählungen spielen Schöpfungsmythen eine Rolle, Texte mit historischem Hintergrund wie "Das Ende Richards III." finden sich ebenso wie Traumhaftes, seien es nun Heldenträume oder aber Albträume, vor deren finsterem Hintergrund sich die Manifestationen menschlicher Bosheit offenbaren. "Macht und Ohnmacht" ist ein satirisch angehauchter, zivilisationskritischer Text, worin Sklaven, ein Herrscher, der höchste Geistliche sowie ein Pressesprecher zu Wort kommen. So äußert sich zum Beispiel der Herrscher gegenüber seinem Sklaven: "Ich trage die Verantwortung für das Los eines jeden. Zu jeder Stunde, in jeder Minute. Ich atme für jeden. Ich esse für jeden. Ich liebe für jeden. Ich liebe jeden. Ich liebe dich, Sklave. Da muss man oft hart sein, hart gegen sich selber. Das Volk mag leiden zuweilen, der Hunger, die Armut, diese schrecklichen Seuchen. Du magst sogar leiden zuweilen: aber du leidest nie das, was ein Herrscher leidet. Schmerzen, da hat das Volk keine Ahnung davon. Keine Ahnung." Unter der Überschrift "Damals und jetzt" findet der Leser Texte, die Widmer vor über dreißig Jahren verfasst und kürzlich erst wiederentdeckt hat. Diese Texte hat der Autor aus seiner heutigen Betrachtungsweise noch einmal überarbeitet, ihnen quasi Antworten gegeben.

Einen verrückt zerfahrenen Tanz belustigender, pointiert spritziger Einfälle bietet uns diese kleine Geschichtensammlung, literarisches Kleinholz von zündender Wirkung. Widmers Freude an absurden Kombinationen sorgt ein ums andere Mal für Verwirrung beim Leser, vergeblich sucht er nach Orientierung, vergeblich ist es, sich vorzustellen, wie die heute ausgestorbenen Farben Yal, Chnu, Fibittl und Shnö wohl ehedem geleuchtet haben mögen. Fabeln, Satiren, Grotesken sind es, die Urs Widmer durch die "Stille Post" an seine Leser verschickt.

(Werner Fletcher; 10/2011)


Urs Widmer: "Stille Post. Kleine Prosa"
Diogenes, 2011. 176 Seiten.
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