Voltaire: "Die Affäre Calas"
Über die Toleranz
Der Chefspötter der
französischen Aufklärung "en rage"
Über Voltaire lässt sich trefflich streiten, wobei Person und Werk sich
hierfür gleichermaßen anbieten. Dieser tapfere Recke des Wortes und
Spottes kämpfte aufrecht gegen
Despotie und Unaufgeklärtheit, sobald er dieser gewahr wurde. Doch
wenn seine Gegner es verstanden ihm zu schmeicheln, so konnte in
Voltaires Augen ein politischer Mord auch einmal zu einer
Familienangelegenheit werden, die niemand Außenstehenden etwas anging,
wie es sich am Hofe Katharinas zeigte. Aber es gab Grenzen, bei deren
Überschreiten Voltaire ohne persönliche Rücksichtnahme eine scheinbar
maßlose Schlacht ins Werk setzen konnte. So sind ein skandalöses Todesurteil
im Falle Sirvin und der unglaubliche Vorgang um den Chevalier de la
Barre zu nennen, der in einer engagierten Schilderung Max Gallos
nachvollziehbar ist, allerdings nur noch antiquarisch. Doch die
vorliegende Affäre Calas bildete den Anfang dieser unrühmlichen Reihe
dunkelster Stunden französischer Justiz des 18. Jahrhunderts.
Im Oktober 2011 jährt sich der vermeintliche Mord an Marc-Antoine Calas
im französischen Toulouse zum 250. Mal. Doch was macht diesen Fall so
außergewöhnlich? Da ist zum Einen der Umstand zu nennen, dass man den
protestantischen Vater in einer religiös aufgeheizten Stimmung wider
alle Fakten und wider alle Vernunft eines religiös motivierten Mordes an
seinem eigenen Sohn bezichtigte, ihn schuldig sprach und auf grausame
Art und Weise hinrichtete. Die andere Besonderheit liegt schlicht darin,
dass der rund 500 Kilometer entfernt lebende Voltaire Wind davon bekam
und sich fortan der Sache annahm, bis am Ende das Urteil aufgehoben
wurde und Vater Jean Calas nebst Familie vollends rehabilitiert wurde,
was diesem persönlich allerdings nichts mehr nutzte. Mit diesem von der
Professorin für Zeitgeschichte Ingrid Gilcher-Holtey herausgegebenen
Buch erschließt sich dem deutschsprachigen Publikum die Affäre Calas in
der gebotenen Tiefe.
Das erste Kapitel enthält einen kleinen Auszug der insgesamt 473 Briefe
Voltaires an einflussreiche Persönlichkeiten, mit denen er Bewegung in
die Sache bringen wollte und auch brachte. Es folgen Briefe anderer
Personen sowie weitere Dokumente zu diesem Fall, die Voltaire ebenfalls
in sein Oeuvre aufgenommen hatte, zwei Beiträge seines philosophischen
Wörterbuchs, die sich auf diese Affäre bezogen, sowie eine donnernde
Philippika gegen die christliche Intoleranz im Allgemeinen und den Fall
Calas im Besonderen.
Voltaire hatte den Spieß gewissermaßen umgedreht und das Toulouser
Gericht (Parlament) angeklagt: "Das Parlament von Toulouse muss
verstehen, dass man es solange für schuldig hält, bis es bereit ist,
zu belegen, dass die Calas es sind." Durch den öffentlichen Druck
erreichte er eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Jahre 1764 und die
bereits erwähnte Rehabilitation.
Das Angebot an deutschsprachigen Texten von und zu Voltaire ist ohnehin
nicht üppig, und so kommt man an dieser wesentlichen Dokumentation
Voltaire'schen Wirkens nicht vorbei, sofern man sich auch nur am Rande
für Voltaire, die europäische Aufklärung oder das französische 18.
Jahrhundert interessiert.
Die dem Werk Voltaires entnommenen Texte erwarten den Leser ohne
Erläuterungen. Man hätte sich die eine oder andere Anmerkung schon
gewünscht, beispielsweise um Begriffe aufzuhellen wie Basoche von
Toulouse, was sich selbst einer gehobenen Allgemeinbildung entzieht -
mit Basoche ist im vorliegenden Kontext wohl abwertend der komplette
corpus iuris der Stadt gemeint ist. Erst im Nachwort präsentiert der
Text einige Hilfen, die man sich schon 200 Seiten vorher gewünscht
hätte.
(Klaus Prinz; 02/2011)
Voltaire: "Die Affäre Calas. Über die
Toleranz"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Ingrid
Gilcher-Holtey.
Insel Verlag, 2011. 293 Seiten.
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