John Vermeulen: "Der Maler des Verborgenen"
Roman über Leonardo da Vinci
John Vermeulen (1941-2009)
galt bislang als sicherer Tipp für Lesebegierige, die sowohl nach
spannender als auch nach lehrreicher Literatur verlangen. Für eine
genüssliche Weise, sich zu bilden und sich dabei zu unterhalten, nicht
zuletzt dafür stand beispielgebend sein Werk, das sich bibliografisch
seit den frühen 1990er-Jahren auf herausragende Kunstschaffende und
Denker der Renaissance spezialisierte. Der niederländischsprachige
Belgier Vermeulen wurde solcherweise zum fixen Begriff im Genre des
Historienromans. Mit seinem definitiv letzten Roman über den Künstler
und Denker Leonardo da Vinci bleibt Vermeulen seiner Stiltradition des
unterhaltenden Gelehrten oder auch gelehrigen Unterhalters treu, wagt
sich jedoch diesmal an eine doch recht harte Nuss, um das einmal so
auszudrücken. Dabei hätte er es sich auch leicht machen können, denn
jener Leonardo aus Anchiano bei Vinci - einen Zunamen hatte er nicht -
hat es nicht zuletzt dank Dan Browns populärem Thriller "The Da
Vinci Code" (deutsche Übersetzung: "Sakrileg") auch bei jenen
Zeitgenossen zur Bekanntheit gebracht, die sich ansonsten weder für die
Kunst noch für die
Philosophie
der italienischen Renaissance interessieren. Warum also nicht auf
einen fahrenden Zug aufspringen?
Um es gleich klarzustellen: Vermeulen widersteht der Verlockung sich
einem Megaverkaufsschlager anzuhängen und lässt sämtliche Spekulationen
des Dan Brown unbeachtet. Sie werden einfach nicht thematisiert und
bleiben im biografischen Roman des Belgiers mehr oder weniger
ausgespart. Ob denn also im Secco vom letzten Abendmahl Cenacolo in
prominenter Platzierung nebst Jesus in der Tat ein Mädchen, Maria
Magdalena, oder doch nur ein mädchenhafter Jüngling, Johannes, sitzt,
bleibt diesfalls ungeklärt. Zur Erwähnung gelangt lediglich, und dieses
mehr beiläufig denn handlungstragend, dass Leonardo der künstlerischen
Darstellung mädchenhaft zarter Jünglinge - von Lustknaben also, könnte
man mutmaßen - keineswegs abgeneigt war.
Womit wir auch schon bei der zuweilen mit hintergründigem Gestus ins
Treffen geführten Annahme von Leonardos Homophilie angelangt wären, die
auszuschlachten ein gefundenes Fressen für einen nach Verkaufsquoten
gierenden Romancier sein sollte. Leonardos nicht zu verbergende
lebenslange Unbeweibtheit gab schon zu seinen Lebzeiten nicht nur
ständigen Anlass für schlüpfrige Mutmaßungen und lästige Fragen, sondern
brachte ihm übler Verleumdungen wegen Ärger mit der Tugendwacht ein.
Gäbe es für einen Biografen des Renaissancekünstlers also noch
Einfacheres, als sich beispielsweise den Gerüchten über ein sexuelles
Verhältnis zwischen dem Meister und seinem jugendlichen Gehilfen Salaj
(Gian Giacomo Caprotti) in fantasierender Manier anzuschließen? Und wenn
schon mangels stichhaltiger Fakten nicht grob zur Sache gebracht, die
sprichwörtliche Suppe ist viel zu dünn, so wenigstens in
unterschwelligen Andeutungen, die keinen Zweifel übrig lassen. Man hat
dann halt nichts gesagt - nur so gemeint.
Vermeulen verweigert sich auch dieser Versuchung und löst Leonardos
eigentümliches Sexualleben, das ohnehin ein scheinbar kaum gelebtes,
dafür höchst komplexes, also irgendwie ein diffiziles Nichtleben war, in
dessen leidenschaftliche Hingabe an den ihm innewohnenden schöpferischen
Geist auf. Als zweckgerichtete Steuerung, Überhöhung und Adelung dunkler
Energien, die sich so oder so ausleben lassen. Was vielleicht, daran
ließe sich eine hübsch deftige Kontroverse anschließen, in
psychologischer Deutung dessen ungeheure, die intellektuellen
Kapazitäten eines Einzelnen schier übersteigende Schöpferkraft erklären
hilft. Leonardo, der in jüngeren Lebensjahren ob seiner alles
überragenden Schönheit einem jungen Gott glich, deswegen begehrliche
Blicke von Mann und Weib wie magnetisch auf sich zog, und der auch im
reiferen Lebensabschnitt noch so manchem weiblichen Modell die Sinne
reizte, also, da bei der sinnlichen Liebe doch einer dem anderen
Genussobjekt sei, jede leibliche Voraussetzung für ein sinnenfrohes
Treiben in optimaler Weise mitbrachte, versagte sich demnach selbst, aus
ihm eigentümlichem Motiv, nicht nur die Lust am weiblichen sondern
ebenso am männlichen Körper.
Vermeulen maßt sich wie gesagt nicht an, die letztgültige Wahrheit über
das wie auch immer von der Norm abweichende, weil in den Augen seiner
Mitwelt unübliche, im konkreten Fall nicht ausgeschöpfte, letztlich
irritierende "Sexualleben" Leonardos zu kennen, er enthält sich nicht
zuletzt in der Konsequenz aus seiner Unwissenheit dessen, dieses in
marktschreierischer Manier zu bewirtschaften, und versucht vielmehr das
Ätherische im Gefühlsleben des Geistesmenschen nachzuempfinden, welcher
Leonardo gewiss denn war und der ihn zweifelsohne in Widerspruch zu dem
brachte, was gemeinhin als soziale Konvention dem Einzelnen zu seiner
Pflicht und Erquickung auferlegt und zugestanden ist. Es ist in Gestalt
seines Leonardo schlussendlich der hoch verfeinerte Ästhet, der sich
gegenüber dem vermeintlich größten Vergnügen vermittels einer bei ihm
zur Feststellung gelangenden Gebärde des angeekelt Seins in die Distanz
setzt: "Der Akt der fleischlichen Liebe und die daran beteiligten
Körperteile sind von großer Hässlichkeit."
Überhaupt ist dem Misanthropen, welch' einer Leonardo geradezu
idealtypisch war, die Geselligkeit seiner Mitmenschen, egal ob männlich
oder weiblich, in aller Regel nichts als eine aufgenötigte Lästigkeit,
die länger als eine halbe Stunde zu ertragen, ihm, ob deren meist
schalen Geschwätzes und/oder ordinären Gehabens, eine Unerträglichkeit.
Bekanntlich charakterisierte Leonardo die Menschen als - "zahlreich
sind jene" - tugendlose Erzeuger von Dung und Füller von Latrinen.
Nur wenig Sinnreiches käme von ihnen und nichts als volle Latrinen
bliebe von ihnen. Mit einem anderen Menschen unter einem Dach
zusammenleben und Tisch und Bett mit ihm zu teilen, dieses zu erstreben
müsse als Lebensziel folglich angezweifelt sein. Vermeulen betont in
seiner Darstellung von Leonardos Vita dessen strikten Hang sich zu
vereinzeln, in der Distanz zu bleiben, im sozialen Umgang wählerisch zu
sein und die energetische Kraft der Libido im Werk des Universalgenies
zu sublimieren. Das Genitale aber entzaubert und beschmutzt das Schöne,
lenkt ab und verschwendet die Schöpferkraft. Die Anmut der schönen Frau
wird gewöhnlich, wenn der Sinnenrausch und die Gier nach dem Mann sie
packt.
Dabei dürstet es den Geistesmenschen nach Erhöhung und nicht nach
Erniedrigung, weshalb er meidet, was ihn hinunterzieht. Der nimmer
ruhende Geist genügt sich ergo selbst, will ungestört streben, ist im
wahrsten Wortsinn aristokratisch und bedarf nur des Erwählten - falls
denn überhaupt.
Und wenn schon Gemeinschaftlichkeit sein soll, dann ist dem Tier vor dem
Menschen der Vorzug zu geben. Dieses zu essen folglich für Leonardo
seinem ethischen Begriff zuwiderläuft. Schon in jugendlichen Jahren
enthält er sich des fleischlichen Genusses; bzw. des Genusses von
Fleisch. Welch‘ ein ungewöhnlicher Mensch! In jenen fernen Tagen, als
die Rechte des Tieres noch viel weniger galten, als die sowieso
kümmerlichen Rechtsansprüche von nicht so wohlgeborenen Menschen.
Leonardo da Vinci (1452-1519) war nicht nur ein begnadeter Maler und
Bildhauer, als der er uns allen bekannt, er war auch Architekt für
zivile und militärische Zweckbauten, Anatom, Philosoph, Mechaniker,
Erfinder, Visionär, Tierrechtler, Musiker, Botaniker, Mathematiker,
Geologe, Städteplaner, Biologe, usw. usf. - kurzum der Archetyp des
genialen und enzyklopädisch gerichteten Intellektuellen. Die
Interessensgebiete und der Forscherdrang des großen Renaissancedenkers
lassen sich kaum in Grenzen legen. Doch genau dieser radikale
Intellektualismus, diese totale Hinwendung zu einem Leben im Geiste, bei
- mutmaßlich - gleichzeitiger Verweigerung einer (auch) an der
sinnlichen Erbauung orientierten Existenz, macht die Verfassung eines
biografischen Romans dieser Person zu einem schwierigen Unterfangen,
will man denn seinem Gegenstand treu bleiben. Das Abenteuer im Kopf des
Einen, der ganz gewiss Genie und irgendwie auch Lebensverweigerer ist,
dem Leser zur packenden Lektüre zu verfassen, ist eine Herausforderung,
die eines ebenso erfahrenen wie raffinierten Romanciers bedarf. Und
letztlich auch eines Publikums, das sich auf dergleichen ebenso willig
wie verständig einlässt. Denn Leonardo ist ein Virtuose des Pinsels und
nicht der Stichwaffe, was die Angelegenheit per se weniger
aktionsgeladen und mehr kontemplativ macht.
Die Entstehungsgeschichte der von Mythen umwitterten "Mona
Lisa" ist nun einmal überwiegend geistiges Ringen; ihr
geheimnisvolles Lächeln ist in den Tiefen des Seelenlebens ihres
Schöpfers verborgen. Wenn ein Kunstmaler über der Nuance eines
Mundwinkels brütet, worin er einen flüchtigen Augenblick lang etwas
Verborgenes (daher der Titel!) entdeckt hat, das ihn für ewig bezaubert
und das er wiedergeben will, darin ein ihm essenzielles Schaffensproblem
erfährt, das ihn jahrelang beschäftigt, dann ergibt das in der
Nachbetrachtung einen Stoff, aus dem nicht unbedingt Verkaufserfolge
gestrickt sind.
Inwieweit nun der Autor seine schwierige Thematik mit Bravour bewältigt
hat, wird letztlich jeder Leser für sich selbst entscheiden müssen.
Leicht und durchaus fesselnd liest sich Vermeulens Roman gewiss - doch
ist das schon alles? Leonardo ist selbst in seinen Flegeljahren ein
stilles und nachdenkliches Gemüt gewesen, das nicht hinter Mädchen,
sondern hinter Gedanken, Ideen und Visionen herjagt. Sodann ein Mann,
der - mutmaßlich - aus Neigung und Feingefühl jungfräulich bleibt und,
ein weiterer eigentümlicher Aspekt, das Geschäftsinteresse hinter das
Erkenntnisinteresse reiht.
Ich finde, das zu verstehen, erfordert schon ein gehöriges Maß an
Umdenken, zumal es dem - obgleich dieses in völliger Verflachung
zelebriert - sexualisierten Zeitgeist unserer Tage, wie überhaupt der
ganzen grenzdebilen Spaßkultur, aber auch dem profitmaximierenden
Arbeitsethos gänzlich zuwiderläuft. Gelingt es, diesen Mann zu begreifen
und zu mögen, dann wird man auch Vermeulens Text begreifen und mögen.
Das Buch wird man dann nicht bloß gelesen haben, um der Behauptung
wegen, man hätte wieder einmal zum Nachweis der Belesenheit etwas
gelesen.
Eine Hilfe bei der vielleicht nicht ganz einfachen Lektüre scheint mir
übrigens, und in diesem Falle von besonderer Bedeutung (deshalb der
Tipp), das Internet als zweckdienliches Rechercheinstrument zu nutzen.
Ludovico Sforza, Genevra de Benci, die Felsgrottenmadonna, Mona Lisa, Machiavelli,
Salaj, die
Medici, aber auch von Leonardo entworfene Bollwerke, Architektur,
Flug- und Kriegsmaschinen, der vitruvianische Mensch, anatomische
Studien - Internetrecherchen zu Leonardo da Vinci lassen keinen
Suchbegriff unbeantwortet; die Fülle an Information ist überwältigend -
all dies, ihre historische und sonstige Bedeutung, im Roman notwendiger
Weise immer nur angedeutet, lässt sich leichter erfassen, wenn man es
vor Augen hat und weiterführend erläutert bekommt.
Vermittels der ergänzenden Informationen gewinnt der Text an
Plastizität, und man begreift leichter die Wirklichkeit eines
Universaltalents, das in seiner Totalität zu erfassen letztlich eine
Frage der Reifung sein wird. Womit auch nur gesagt sei, dass man mit dem
Roman Vermeulens ein Schriftwerk vor sich hat, dem der Leser seine Zeit
zur Entfaltung zugestehen muss. Und zwar nachdem die letzte Zeile
gelesen und das Buch wieder weggelegt worden ist. Kein Buch für ein
Wochenende also, obgleich es ob des handwerklichen Könnens Vermeulens
sicherlich rasch gelesen ist.
(Harald Schulz; 06/2011)
John
Vermeulen: "Der Maler des Verborgenen. Roman über Leonardo da
Vinci"
(Originaltitel "De Schaduw van een Glimlach")
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes, 2011. 592 Seiten.
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