Giorgio Vasta: "Die Glasfresser"
Dieser Roman des 1970 in
Palermo geborenen Giorgio Vasta wurde im Jahr 2008, dreißig Jahre nach
dem Höhepunkt des Terrors der Roten Brigaden mit der Entführung und der
Ermordung von Aldo Moro in Italien veröffentlicht und hatte dort großen
Erfolg. Je länger man diesen Roman liest, je mehr man sich der
Verstörung, die er auslöst, überlässt, desto mehr versteht man, warum.
Es ist der Versuch eines Mannes, zu verstehen, was damals in seiner
Heimat geschehen ist, wie der rote Terror sein Land gewandelt und seine
eigene Kindheit und Jugend geprägt hat.
Und es ist der gelungene, gerade auch literarisch gelungene Versuch,
einem Phänomen nachzuspüren, das seitdem in der italienischen
Gesellschaft, und nicht nur dort, Einzug gehalten hat. Die zunehmende
Gewaltbereitschaft junger Menschen, die Prozesse, wie ganze Gruppen
einer Gesellschaft sich fanatisieren und schlussendlich vor
schrecklichen und absolut unmenschlichen Taten nicht zurückschrecken,
sondern in ihnen einen quasi-religiösen Auftrag sehen, der die Guten von
den Bösen scheiden soll, war nicht nur damals zu beobachten, anno 1978,
jenem Jahr, in dem der ganze Roman spielt, sondern sie hat seitdem
überall auf der Welt erschreckend zugenommen.
Dennoch ist "Die Glasfresser" ein genuin italienisches Buch, das
verstehen möchte, wie die Roten Brigaden ganze Teile der Bevölkerung mit
ihrem Gedankengut infizieren konnten, mit ihrer kalten Macht und Gewalt.
Die Handlung zieht sich über das ganze Jahr 1978 hinweg und spielt in
Palermo. Dort lebt der ich-erzählende elfjährige Nimbus. Wie auch seine
Klassenkameraden Bocca und Scarmiglia ist er von den Roten Brigaden
fasziniert. Die Buben lesen und analysieren deren frei zugängliche
Kommuniques, während Aldo Moro gefangen gehalten wird.
Die Drei spüren "(...) eine Unruhe. Eine Erregung. Das Bedürfnis,
aktiv zu werden, das Bedürfnis nach irgendetwas, das einen packt und
mitreißt, nach irgendetwas, auf das man sich konzentrieren kann. Auf
den Kampf zum Beispiel. Denn darum handelt es sich. Das Wort 'Kampf'
enthält Sex, Wut und Traum. Also versucht man es leise, doch schamlos
auszusprechen, und man versucht es mit einer Aktion zu verbinden. An
diesem Punkt jedoch kehrt das Glanzlose, das Matte zurück und trennt
jedes Vorhaben von seiner Verwirklichung."
Scarmiglia entwickelt sich zunehmend zum auch von den beiden anderen
Jungen akzeptierten Ideologen einer Gruppe, die sich innerhalb von
Monaten nach dem Vorbild der Roten Brigaden organisiert, trainiert und
schließlich zur Aktion schreitet, wie Scarmiglia Bocca und Nimbus schon
zu Beginn klargemacht hat.
Als Nimbus sagt, die Roten Brigaden seien die Einzigen, "die
verstanden haben, dass der Traum welkt, wenn er ein Traum bleibt",
entgegnet Scarmiglia:
"Die Roten Brigaden haben begriffen, dass der Traum mit Disziplin
verbunden, dass er hart und exakt und auf eine Ideologie projiziert
werden muss. Die Roten Brigaden spüren all das, sie sind all das. Sie
geben dem Immateriellen Materie, der Schale einen Kern und der
Trägheit einen Impuls. Sie haben die politische Drüse eines ganzen
Landes entfernt und zwingen Italien jetzt, sie wahrzunehmen."
Nach eisernem und hartem Training beginnt die Gruppe ihr Aussehen zu
verändern, und sie etablieren eine Geheimsprache. Und es dauert nicht
lange, bis ihre Gewaltobsession sich fürchterliche Bahn bricht ...
Die Sprache des Buches ist dem Sujet angemessen. Sie spürt der
Leidenschaft, dem Fieber und der ziellosen Suche nach Sinn nach, die
drei Jugendliche in einer "Orgie von Obsession und Gewalt" zu
finden hoffen.
Ein Lichtstrahl in einem verstörenden Buch ist die zarte Liebe und
Sympathie des Erzählers Nimbus für "das kreolische Mädchen" aus
einer Schule. Doch werden ihn diese Gefühle aus der Spirale der Gewalt
retten?
Giorgio Vasta hat einen Roman geschrieben, dem man sich auch als
deutschsprachiger Leser nur schwer entziehen kann. Doch fragt man sich
von der ersten bis zur letzten Seite, wie ganz normal gebildete
Elfjährige auf einem solchen Reflexionsniveau reden und handeln können.
Buchen wir es unter die dichterische Freiheit, die sich der drei Jungen
1978 bedient, um Phänomene zu beschreiben und Abgründe des Bewusstseins
auszuloten, die in Italien und auch anderswo noch längst nicht
ausreichend verstanden werden.
(Winfried Stanzick; 01/2011)
Giorgio Vasta: "Die Glasfresser"
(Originaltitel "Il tempo materiale")
Aus dem
Italienischen von Ulrich Hartmann.
DVA, 2011. 315 Seiten.
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Giorgio Vasta, 1970 in
Palermo geboren, lebt in Turin und arbeitet als Verlagslektor. Er
hat Anthologien herausgegeben und mehrere Erzählungen in renommierten
Literaturzeitschriften publiziert. Sein Roman "Die Glasfresser" wurde
von der italienischen Kritik als einer der besten Romane des Jahres
gefeiert und unter Anderem für den bedeutendsten Literaturpreis
Italiens, den "Premio Strega", nominiert.
Weitere Buchtipps:
Roberto
Cotroneo: "Die Jahre aus Blei"
Italien in den 1970er-Jahren: Die Anschläge der linksterroristischen
Roten Brigaden fordern immer mehr Todesopfer. 1978 wird der ehemalige
Ministerpräsident Aldo Moro entführt und ermordet; die wahren
Beweggründe sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. In seinem Roman
erzählt Roberto Cotroneo vor dem realen Hintergrund des spektakulären
Entführungsfalls eine fiktionale und doch ganz und gar wahrscheinliche
Geschichte.
Immer wieder kreuzen sich die Wege von Cristiano Costantini und Giulia
Moresco in diesen Jahren aus Blei. Sie stammen aus ganz
unterschiedlichen Elternhäusern. Da ist Giulias Vater, ein
unnachgiebiger Kommunist, eine wichtige Person in der KPI. Cristianos
Vater dagegen ist Faschist und spioniert für den italienischen
Geheimdienst. Durch ihren Vater mit den richtigen Verbindungsleuten
bekannt gemacht, wird Giulia unwissentlich für die Entführer von Aldo
Moro tätig. Cristiano ergreift - vor allem aus Protest gegen seinen
Vater - die Gelegenheit zum bewaffneten Kampf und taucht unter.
Dreißig Jahre später: Cristiano lebt längst unter falschem Namen in
Argentinien, da stößt Giulia auf ein offenbar gezielt hinterlegtes
Bekenntnisschreiben von Cristianos Vater, das ein verstörend neues Licht
auf die Vergangenheit wirft. Der Vater wusste von den Umtrieben seines
Sohnes und lenkte Cristianos Schritte so, dass sie nicht der
Weltrevolution, sondern der Rechten dienten. Giulia lässt dieses
Bekenntnis Cristiano zukommen. Er muss nach Europa zurückkehren und sich
endlich seiner Vergangenheit stellen - auch wenn das neue Opfer kosten
wird. (Insel)
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Johannes
Hürter,
Gian Enrico Rusconi (Hrsg.): "Die bleiernen Jahre. Staat und
Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969-1982"
Zwei Staaten, ein Problem. Nirgendwo in Europa verübten linksextreme
Terroristen während der 1970er-Jahre so viele blutige Attentate wie in
Italien und in
der
Bundesrepublik Deutschland. Südlich der Alpen verschärften
neofaschistische Anschläge die Lage noch. Beide Demokratien sahen sich
gezwungen, auf diese militante Herausforderung zu reagieren. Die
Interaktion von Terrorismus, Staat und Gesellschaft prägte ein
Jahrzehnt, das in doppelter Hinsicht als "bleiern" empfunden wurde:
wegen der drückenden Atmosphäre unter dem Primat der Inneren
Sicherheit und wegen der Wiederkehr bewaffneter Gewalt in der
politischen Auseinandersetzung. Wie wurde diese Krise bewältigt?
Nahmen dabei der demokratische Staat und die liberale Gesellschaft
Schaden? Ein vergleichender Blick auf beide Länder verspricht neue
Antworten. (Oldenbourg)
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