John Updike: "Die Tränen meines Vaters"
Erzählungen
Beeindruckendes Spätwerk
Der am 27. Januar 2009 verstorbene Schriftsteller John Updike war
bereits zu Lebzeiten einer der renommiertesten und wichtigsten Autoren
der Welt. Zu seinen Hauptwerken zählen die gewichtigen Romane, allen
voran die großartigen "Rabbit"-Romane, die jeweils im Abstand von zehn
Jahren entstanden und ein wunderbares Panorama der US-amerikanischen
Gesellschaft bieten, oder die Romane "Ehepaare", "Brasilien", "Die Hexen
von Eastwick" und "Erinnerungen
an
die Zeit unter Ford", um nur ein paar zu nennen. Zwischen seinen
Romanen hat John Updike immer Erzählungen geschrieben. Erzählungen, die
teilweise zu den besten der Gattung gehören.
"Die Tränen meines Vaters" ist Updikes letzter Erzählungsband, der
seinen Enkelkindern gewidmet ist. Er beschäftigt sich, wie oft bei
Updike, mit Liebe, Sexualität und Ehebruch.
Die Spielstätten dieser Erzählungen sind von Indien, Spanien, Italien,
Marokko und den USA bunt verstreut, im Mittelpunkt des Bandes steht aber
zweifellos Updikes Stadt Olinger. Somit schließt sich der Kreis zu
Updikes ersten Erzählungsbänden.
Obschon die Erzählungen stilistisch sehr unterschiedlich sind, führt der
rote Faden der Erinnerung und des Abschiednehmens sanft wie ein
Leitlicht durch diesen Band.
Erste, nie vergessene Küsse, die auch ein halbes Jahrhundert später
irritierend und prägend sein können, vergessene Liebschaften, die Jahre
später, jetzt nicht mehr verboten, nicht mehr zünden, der Anschlag
auf das "World Trade Center" am 11. September 2001 oder
ein vor vielen Jahren erlebter Urlaub; das sind nur einige der
Ausgangspunkte für Updikes 18 in diesem Band versammelte Abgesänge.
In "Archäologie in eigener Sache" begeht der Protagonist im Zuge seiner
zunehmenden Isolation sein Anwesen und sucht dieses nach den Zeichen der
vier Epochen vor seinem Einzug, bis er überraschend alte, vergilbte
Golfbälle findet, die er, zu einer Zeit, als er noch ein guter Golfer
war, probeweise in den Wald geschlagen hatte und somit den Beginn seiner
Epoche auf diesem Anwesen entdeckt.
In "Frei" such Henry nach dem Tod seiner Frau seine frühere Geliebte
Leila auf, die bereits einige gescheiterte Ehen hinter sich hat, nun
aber auch frei wäre. Wie ein frischverliebter Jüngling fährt Henry nach
Florida, wunderbar, wie John Updike dieses Herzrasen, Zittern und die
Vorfreude auf das Wiedersehen schildert, ohne dabei die Fragilität
dieser gewollten Erinnerung Oberhand gewinnen zu lassen, nur um beim
direkten Aufeinandertreffen rasch zu merken, dass die Verbindung ohne
die damaligen Umstände leer und gar enttäuschend ist:
"Wieder in ihrem Wohnzimmer, sah Henry sich schon draußen vor der
Tür, unter einem umgrenzten Himmel, der diesmal rechteckig war. Es
würde eine lange Fahrt werden, gegen das Licht der untergehenden
Sonne, durch den großen Südflorida-Sumpf. 'Nun ja, was bedeutet
frei?', fragte er. 'Ich denke, es ist ein Geisteszustand. Wenn ich auf
uns zurückblicke - vielleicht war das so frei, wie etwas nur sein
kann.'"
"Spielarten religiöser Erfahrung" ist eine starke, auf vier
Protagonisten aufgeteilte Erzählung, die ihre einzige Gemeinsamkeit im
Inferno des 11. September des Jahres 2001 haben. Dan Kellog, der im
Augenblick des Einsturzes des Südturms die Erkenntnis hat, dass es
keinen Gott gibt, der Selbstmordattentäter und Pilot Mohamed, der wenige
Tage vor dem Anschlag seinen vierten "Scotch on the rocks" in
einer Stripbar in Florida bestellt, der sich zum Zeitpunkt des
Anschlags in einem Stockwerk über dem Einschlag des ersten Flugzeugs
befindet und mit seiner Frau telefoniert und Carolyn, die sich in einem
der Flugzeuge auf dem Weg zu ihrer Familie befindet. Kunstvoll schlägt
Updike gegen Ende der Erzählung den Bogen zurück zu Dan Kellog, dem
einzigen nur indirekt beteiligten Protagonisten. Beiläufig fast, nur
über den Dialog mit seiner Tochter und dem Enkelkind entfaltet sich eine
Meditation über einen indifferenten existenten oder eben nicht
existenten Gott.
"Spanisches Präludium zu einer zweiten Ehe" ist die bissig-heitere
Geschichte eines Paares, das sich nach Jahren einer Beziehung zwischen
zwei Wohnungen nun entschieden hat, zu heiraten und das die Gelenke der
Zweisamkeit auf einer gemeinsamen Spanienreise erst ölen lernen muss.
"Tränen meines Vaters" und "Stromausfall" sind weitere, besonders starke
Erzählungen in dieser Sammlung, die im wundervollen Abschiedstext "Das
volle Glas" gipfelt.
"Auf die achtzig zugehend, sehe ich mich manchmal aus einigem Abstand
als einen Mann, den ich kenne, aber nicht näher. Normalerweise bin ich
für Introspektion nicht zu haben."
Und doch geht der Erzähler in sich und lässt die vermeintlich
wichtigsten Ereignisse und Momente seines Lebens vorüberziehen, lässt
immer mehr den Gedanken an den Tod
zu, bis hin zum Todeswunsch.
Updikes letzte Erzählungen; das bedeutet eine auf den ersten Blick
unspektakuläre Prosa, fern jeglicher Effekthascherei. Die letzten 18
Erzählungen aus der Feder des Meisters sind kleine Kunststücke und
perfekte Beispiele für die unaufdringliche Kunst John Updikes. Diese
besteht darin, Geschichten zu erzählen, die sich quasi nur beiläufig als
die Meisterwerke offenbaren, die sie sind.
(Roland Freisitzer; 08/2011)
John Updike: "Die Tränen meines Vaters.
Erzählungen"
Übersetzt von Maria Carlsson.
Rowohlt, 2011. 367 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Rowohlt, 2011.
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