Ilija Trojanow: "EisTau"


Gletscher schmelzen - Worte verrinnen

Zeno hat sein Leben den Gletschern überschrieben. Als Glaziologe an einer süddeutschen Universität reist er, so oft er kann, mit Studenten und allein, für universitäre Forschungen und in seiner Freizeit, zu seinem Lieblingseisfeld in die Alpen. Als dieses ebenso wie seine Ehe abschmilzt, findet er auf einem Kreuzfahrtsschiff in den antarktischen Meeren neue Aufgaben und eine neue Liebe.

Sein Leben wendet sich, anfangs durchaus erfolgreich, zweiten Chancen zu: einer zweiten Beziehung, einem zweiten Gletscherland. Als sachkundiger Expeditionsleiter - in einem Alter, in dem Andere schon an den Ruhestand denken - begleitet er engagiert die gut zahlende Touristen zu kalbenden Gletschern, riesigen Brutvogelkolonien und anderen Naturschauspielen in den südlichsten Zonen des Atlantischen Ozeans. Seine Liebe zur philippinischen Servierkraft Paulina schenkt ihm das bisschen Wärme, das er zum persönlichen Leben braucht. Für die Gletscher und die südpolare Natur ist aber jede auch noch so wohlmeinende Invasion und romantische Zuneigung der Besuchermassen schon zuviel. Für diese scheint das Natursterben ein touristisches Schauspiel im Nachhall der tropischen Großwildjagd zu sein.

Als Ich-Erzähler lässt Zeno die Leser an seiner Wandlung vom wissenschaftlich kritischen Beobachter zum Wutbürger miterleben. Das zunehmende Unbehagen mit den unverständigen Anorakpilgern und gedankenlose Handlungen chilenischer Soldaten radikalisieren ihn.

Das überraschende Ende sei hier keineswegs verraten; zuvor muss sich Zeno noch mit ein paar anderen wohlmeinenden und medienwirksamen Aktionen beschäftigen. Wie die Weltöffentlichkeit die Taten aufnimmt, erfahren die Leser in den netztagebuchartigen Texten eines ungenannten Beobachters zwischen den Kapiteln.

Der Weltenbummler und engagierte Literat Ilija Trojanow weiß, dass Sprache angesichts dieser Erwartungen zunehmend weniger wirkt; die eingestreuten Netztagebücher sind gelungener Beweis. Natürlich weiß er, dass sich die präkatastrophale Sensibilisierung zunehmend in kurzlebiger Alarmierung erschöpft. Eine Pinguinrettung ist symbolisches Handeln, keine Umkehr des Klimaverlaufs. Und doch ist diese engagierte Literatur ein erfolgreiches Gedankenspiel, ein Spiel mit den Traditionen literarisch definierter Heimat. Dieser negative Heimatroman darf keine Grenzen kennen; denn Probleme von heute sind keine Wilderergeschichten, sondern global.

Auf der Wortebene gefällt der Roman durch ungewöhnliche und erheiternde Kollokationen. Diese Anklänge an Sprachspiele und sprachlich geprägte Gedankenspiele kontrastieren aber zunehmend zum pessimistischen Handlungsverlauf. Galgenhumor wirkt oft am eindringlichsten.

(Wolfgang Moser; 11/2011)


Ilija Trojanow: "EisTau"
Carl Hanser Verlag, 2011. 176 Seiten.
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