Michael Stavarič: "Brenntage"


Wie kommt die Zeit in die Welt?

"Ich glaube, alle vergaßen nur zu gern (oder es interessierte sie wirklich nicht), nur ich erinnerte mich immer wieder daran, wo ich mir doch schon sehr früh Notizen gemacht hatte und mir Jahre später noch den Kopf darüber zerbrach. Ich vertraute der eigenen Handschrift [...]" (Seite 114)

Michael Stavarič erzählt von einer betörend harten Welt und dem verstörend einsamen Leben des jungen Ich-Erzählers irgendwo hinter Bergen, in einer Siedlung ohne Namen. Einmal jährlich finden die Brenntage statt, werden allerlei unnütz gewordene Dinge verbrannt, auch die Relikte der Kindheit des namenlosen erzählenden Knaben: Kuscheltiere, Spielzeug, Drachen. Den Landstrich voller Sehnsucht und Wildheit umgibt fast endlose Natur, ein dichter Wald, in dem menschliche Knochen liegen und den Soldaten durchstreifen - doch niemand weiß, woher sie kommen, für wen sie kämpfen, ob noch Krieg ist.

Früh verliert der Heranwachsende die Mutter, seinen Vater hat er nie kennengelernt; Onkel und Tante, die selbst kinderlos geblieben sind, nehmen sich seiner an, schließlich stirbt auch die Tante. Geringfügige Erziehung entspinnt sich in der Beziehung zum traditionalistischen Onkel, der seine Weltsicht in wenige apodiktische Sätze fasst. In die Schule geht er bald nicht mehr, eine Kirche gibt es in der Siedlung ebenso wenig wie Ärzte. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein: Worte sind zeitlos, Dinge verbrennen, Menschen sterben. Die Übertragung der Mondlandung im Fernsehen gehört zu den seltenen historisch zuordenbaren Momenten im Roman.

Für sich entdeckt das Ich die Abfolge der Zeit, die Historizität der Welt. Seine Mutter hat vor ihrem Tod Briefe an ihn verfasst, die ihm ein Notar in einer fernen Stadt auf der anderen Seite der Berge in zuvor genau festgelegter Reihenfolge schickt. Später lässt er alte, fast vergessen Worte aufleben und beginnt, die Welt um sich zu dokumentieren, sich Notizen zu machen, wider das Verharren im zeitlosen Vergessen anzurennen.

Der Autor entwirft in "Brenntage" eine reduzierte, abgeschottete Welt, kein Paradies, aber auch nicht das eindeutige Gegenteil davon. Es ist ein Ort der ewigen Gleichgültigkeit, des Nichtwahrnehmenkönnens und des Nichtwahrgenommenwerdens. Ob die Siedlung in einem waldreichen, abgeschiedenen Teil der Alpen liegt oder irgendwo anders in der Welt, ist egal. Was zählt, ist das Erwachen im Erwachsenwerden; nur das selbst bewusste Ergreifen der Worte schafft Zukunft und mit der zeitlichen Perspektive auch Gegenwart und schließlich Vergangenheit und Vergänglichkeit. In der entdeckten Zeit lauert auch der Tod.

Nicht auf der Ebene der Worte verlangt der 1972 in Brünn geborene und in Wien aufgewachsene Michael Stavarič den Lesern viel ab; sein Sprachstil ist präzise dennoch klassisch unaufgeregt - und doch habe ich noch keinen getroffen, der den Roman in einem Zug gelesen hätte, der nicht in Lektürepausen Abstand gewinnen musste. Es ist ein langsamer Stil, eine trostlose Stimmung, eine lange anhaltende Unbestimmtheit, die den verstört, der nach Spannung in einer zügigen Handlungsabfolge sucht. Die rätselhafte Welt des Romans entreißt sich im Lesen, Erzählen und Schreiben dem Verschwinden in einer ungemessenen Zeit. Seinen Lesern hat Michael Stavarič diese Zeit aufgefangen.

(Wolfgang Moser; 04/2011)


Michael Stavarič: "Brenntage"
C.H. Beck, 2011. 230 Seiten.
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