Lea Singer: "Der Opernheld"


"Es gibt kein Geheimnis, das mehr beglückt als alle anderen: zu wissen, dass diejenigen, die einen für verrückt halten, arme Irre sind." (S. 7)

Moritz Redder lebt ein ziemlich geregeltes Leben. Er arbeitet als Jurist, besitzt eine zuverlässige, wenn auch nach Zwiebeln riechende Haushaltshilfe und sucht sich seine Haushaltsgeräte nach Empfehlungen der "Stiftung Warentest" heraus.
"Ohne die Errungenschaften des privaten Fernsehens, der Computerspiele, der DVD und des Internet, dessen war sich Moritz Redder sicher, wäre er dem Wahnsinn anheimgefallen." (S. 25)

Im Herbst 2008 soll sich alles bisher Gewesene verändern. Redders geregelter Alltag wird durch eine Postlieferung gehörig aus den Fugen geworfen. Ohne Privatfernsehen, Computerspiele, DVD und Netz, dessen kann sich der Leser sicher sein, fällt unser Protagonist tatsächlich dem Wahnsinn anheim. Wie das möglich ist?
Moritz Redder findet an einem Dienstag einige Kartons in seinem Flur. Eine Wiener Kanzlei vermacht sie ihm nach dem Tod seiner Mutter. Die handschriftlichen Beibriefe interessieren den Juristen eigentlich nicht - Handgeschriebenes wandert bei ihm grundsätzlich in den Müll. Doch die Daten der Briefe verführen den Pragmatiker: Er entdeckt auf ihnen ein Datum, das ihn selbst betrifft. Seine Mutter führte noch ein halbes Jahr vor seiner Geburt Korrespondenz mit einem ihm fremden Mann. Die Kartons enthalten dutzendweise Langspielplatten und einen Schallplattenspieler.
"Viele der Wörter und Namen auf den Hüllen endeten auf a: Aida, Traviata [...]. Sie sagten Redder nichts. Die Diagnose war dennoch klar: Oper. Italienische Oper." (S. 30)

Redder muss einsehen: Seine von ihm bisher recht bieder geglaubte Mutter hatte einmal geliebt. Nicht nur einen ihm fremden Mann, nein, auch die italienische Oper. Eigentlich war Redder bislang ja ein auf sich selbst und die Alltagspoesie bedachter Mensch, der auf der zwischenmenschlichen Ebene schon so manche wichtige Erfahrung verbuchen konnte. "Redder war froh, endlich erkannt zu haben, wo das Problem lag: Beim Sex störte der Partner. Vom Überdruck vermochte er sich selbst effizienter zu befreien." (S. 36)
Doch jetzt, beim Hören dieses Gedudels vom Plattenspieler, nach und nach, gerät Redder in den Bann der Musik, er beschäftigt sich mit den Geschichten um die vielen auf "a" endenden Titel. Er muss sich selbst eingestehen: "etwas [rumorte] in seinen inneren Höhlen, das nichts mit Sex zu tun hatte. Diese Stimme war schuld daran [...]". (S. 36)

Moritz Redder alias Maurizio Salvatore, wie er sich später, in Italien nennt, um die Oper zu leben und zu finden, erklärt sich dem Leser aus der Retrospektive. Wie einer verrückt werden kann, wenn er seine eigene Bestimmung, seine Herkunft plötzlich nicht mehr zuordnen kann. Dass man sich diese Bestimmung doch einfach selbst zuschreiben kann, zeigt die Namensänderung. Dass es ohne mediale Ablenkungsmittel in den Wahnsinn der Selbstbestimmung abdriftet, zeigt die Erzählführung. Dass Oper das beste Mittel für einen mindestens mittelschweren Selbstverlust ist, führt Lea Singer in ihrem Roman "Der Opernheld" lang und breit aus.
"Männer bestraften in der Oper die Frauen dafür, dass sie Männer verwirrten und deren rechtwinkliges System ins Wanken brachten. Sie wurden entmachtet, ermordet, verraten und verkauft." (S. 74)

Dass aber der Wahn allein dem Genuss von Opern, die das Leben in höchster Verkünstelung zu dramatisieren pflegen, zuzuschreiben ist, das wird dem Leser bereits anhand der Einführung des Helden klar, muss abgewiesen werden. Die Extreme im Leben zu suchen, der Pragmatiker schlechthin, der Emotionshysteriker par excellence zu sein, das kann nicht gutgehen. Selbstfindung ist wichtig im Leben, wer so gebeutelt wird von dem, was ihm begegnet wie Moritz Redder, der hat bisher in der Verblendung gelebt. Letztlich muss ihm die Begegnung mit der Oper wohl als Glücksfall ausgelegt werden: Endlich einmal beschäftigt ihn sein Leben wirklich. Kunst beeinflusst. Kunst wirkt.

Die Kulturhistorikerin Lea Singer schrieb bereits über den Pianisten Paul Wittgenstein. Mit der Perspektive auf den opernunlustigen Moritz Redder, der durch die dunkle Liebesvergangenheit seiner Mutter in seinem eigenen Leben aufgeschreckt und höchst verunsichert wird, bietet sich der Münchnerin die Möglichkeit, ihr Wissen über die Oper für den Unkundigen einführend und für den Kenner mit ironischem Lächeln darzustellen. Die indirekten Erzählschübe, Gedankensprünge, Halluzinationen des Protagonisten und Zeitenwechsel variieren den Roman, dessen Erzählkurve ansonsten ziemlich einfach ist: Armer träger Pragmatist erlebt die Kunst und Emotion und gerät in den Wahn mit sich selbst. Die Liebe endlich findet den Weg zu ihm. Denn zuguterletzt kann er Emotionen zulassen. Man könnte diesen Roman vorhersehbar nennen. Die Sprache bringt den Leser mit Witz und der nötigen Eloquenz von Seite zu Seite. Spannend sind vor allem die Kapitelanordnungen und die Mitkonstruktionsebene, die dem Leser beim Rezeptionsprozess zufällt.

Wahn ist etwas höchst Unerwünschtes in unserer gegenwärtigen Welt. Dass Redder im Wahnsinn jedoch mit mehr Lebendigkeit und niemals geselliger als zu jener Zeit unterwegs ist, spricht für sich. "Am Anfang war die Einbildungskraft." (S. 384)

(Christin Zenker; 10/2011)


Lea Singer: "Der Opernheld"
Hoffmann und Campe, 2011. 384 Seiten.
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