Anna Seghers: "Erzählungen 1933-1947"


Anna Seghers' im Exil entstandene Erzählungen

Dieser Band der Anna Seghers-Werkausgabe aus dem Berliner Aufbau-Verlag beinhaltet Erzählungen, die die Autorin in ihren Exiljahren verfasst hat. Geschrieben unter dem Eindruck und diktiert von der Tyrannei nationalsozialistischer Diktatur, kommt in allen diesen Erzählungen Anna Seghers' Sorge um die in ihrer deutschen Heimat verbliebenen Menschen zum Ausdruck. Zumeist fiktive, aber exemplarische und für die NS-Zeit typische Schicksale werden mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen literarisch verarbeitet.

Der Reigen der Geschichten beginnt mit der 1933 verfassten Erzählung "Das Vaterunser", in der bereits der ganze Wahnsinn und die groteske, menschenverachtende Brutalität der NS-Herrschaft auf eindrucksvolle Weise dargestellt werden. Die darauf folgende Geschichte handelt vom 1934er-Aufstand österreichischer Arbeiter des Republikanischen Schutzbundes und beruht somit auf wahren Begebenheiten. Andere Erzählungen wie "Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok" oder "Sagen von Artemis" besitzen eher märchenhaften Charakter, der jedoch mit einem geschichtsphilosophischen Hintergrund unterfüttert ist. Grotesk geht es zu auf Anna Seghers' "Reise ins Elfte Reich". In "Ein Mensch wird Nazi" versucht die Autorin, den soziologischen und psychologischen Umständen auf den Grund zu gehen, die das nationalsozialistische Ideengut für viele junge Menschen so attraktiv gemacht haben. Die wohl bekannteste und von der Literaturkritik am meisten beachtete Erzählung ist zweifellos "Der Ausflug der toten Mädchen", ein Meisterwerk der Erzählkunst, in welcher die Autorin virtuos ihren Erzählfaden auf verschiedenen Zeitebenen abspult. "Das Ende", jene Geschichte, die beim Rezensenten den stärksten Eindruck hinterlassen hat, steht dem "Ausflug der toten Mädchen" kaum nach. Die Erzählung spielt unmittelbar nach Kriegsende und schildert die verzweifelte Flucht eines KZ-Aufsehers, die schließlich im Selbstmord endet. "Post ins gelobte Land" ist die Geschichte einer jüdischen Familie, und satirisch geht es her in "Die Unschuldigen", wo sich Funktionäre der Nazipartei vom einfachen Bürgermeister oder Ortsgruppenleiter bis hinauf zum Staatsminister bemühen, ihrer faschistisch-braunen Gesinnung ein Unschuldsweiß aufzuplakatieren. Bleibt letztlich noch die Erzählung "Die Saboteure", worin einige im Widerstand verwurzelte Fabrikarbeiter versuchen, für die Front bestimmte Munition zu manipulieren.

Im Anhang, der in seiner Ausführlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, finden sich der Entwurf sowie drei verschiedene Versionen einer Geschichte, die kurz vor der Machtergreifung durch Hitler spielt und in der die Not der Arbeitssuchenden im Mittelpunkt steht. Dieser Band der Anna Seghers-Edition umfasst also Geschichten mit einer Vielfalt von Themen, deren gemeinsame Wurzel im Widerstand gegen das NS-Regime liegt. Jede Geschichte ist im Nachwort mit einem ausführlichen Kommentar versehen, der dem Leser weiteres Hintergrundwissen vermittelt.
Ein uneingeschränkt zu empfehlendes Buch!

(Werner Fletcher; 08/2011)


Anna Seghers: "Erzählungen 1933-1947"
Aufbau Verlag, 2011. 432 Seiten.
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