Salman Rushdie: "Luka und das Lebensfeuer"
Wenn der kleine Bruder von
Harun einen Zirkusdirektor verflucht ...
"Es war einmal im Lande Alifbay in der Stadt Kahani, da lebte ein
Junge namens Luka ..."
Wer "Harun und das Meer der Geschichten" gelesen und genossen hat, wird
sich in Salman Rushdies Roman "Luka und das Lebensfeuer" wohl fühlen.
Luka, der linkshändige zwölfjährige kleine Bruder von Harun, verflucht
aus Mitleid um die Tiere eines Wanderzirkusses den Inhaber und löst
dadurch ein besonderes Abenteuer aus, dessen Ausmaße und Auswirkungen er
sich nicht hätte erträumen können. Zuerst erbt er zwei sprechende,
tanzende bzw. singende Tiere, nämlich Bär der Hund und Hund der Bär.
Dann fällt sein Vater Raschid in einen scheinbar nicht mehr enden
wollenden Schlaf, und Luka, der nach einer Begegnung mit Nobodaddy (der
aussieht wie Raschid Khalifa und die Lebenskräfte von Raschid Khalifa
absorbiert) versteht, wie schlecht es um seinen Vater steht, macht sich
auf in die Märchenwelt, um seinen Vater zu retten.
" ... denn in dieser Nacht sank Raschid Khalifa, der legendäre
Geschichtenerzähler von Kahani, in einen tiefen Schlaf, mit lächelndem
Gesicht, einer Banane in der Hand und einem Glitzern auf den Brauen,
ohne am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Er schlief einfach weiter,
schnarchte leise vor sich hin ... und so ging es weiter, Vormittag um
Vormittag, Nachmittag um Nachmittag, Nacht um Nacht."
Beeindruckend, wie überzeugend und leicht Salman Rushdies Fabulieren
daherkommt. Man hat als Leser das Gefühl, Zeuge einer im Moment des
Lesens stattfindenden Improvisation, ja fast Zeuge des Moments der
Entstehung eines Märchens zu sein. Unerschöpflich scheinen die Ideen
Rushdies zu sein, er springt ungeniert von einer Idee zur nächsten, und
wenn hier Hunde singen und Bären tanzen, so ist das einfach so. Punkt.
Man liest weiter und staunt.
Natürlich spielt Lukas Abenteuer nun in einer etwas anderen Zeit als
Haruns Abenteuer mit dem Meer der Geschichten. Luka darf, nachdem er
erst einmal in die Märchenwelt eingetreten ist, wie in einem
Computerspiel Leben sammeln, kann diese aber auch verlieren. Für den
richtigen Überblick hat er die Anzahl der vorhandenen Leben und den
jeweiligen "Level" im Augenwinkel. Mit dem einen großen
Unterschied zum herkömmlichen Computerspiel, nämlich dem, dass ein "Game
Over" hier nun tödlich wäre.
Zuerst über den Zeitfluss, an dessen linken Ufer er sich mit dem alten
Rätselrater um sein Leben messen muss. Dann, nach dem ersten
Zwischenspeichern, geht es weiter in den nächsten "Level" des
Spiels um das Leben des Vaters. Fabel- und Märchenwesen treten auf, wie
die Feuerkäfer oder die Elefantenvögel, die ihr Leben lang vom Zeitfluss
trinken und deshalb ein Gedächtnis haben, das weiter zurückreicht, als
jedes andere. Um auf dem Zeitfluss zu bestehen und fahren zu können,
braucht man als Treibstoff Erinnerungen.
Über das "Ich-Respektorat" geht es weiter, und während Nobodaddy
einerseits eine große Hilfe für den jungen Luka ist, ist er Luka aber
auch nicht ganz geheuer, da er ja am meisten vom Tode Raschid Khalifas
profitieren würde. Speziell in diesem Teil, aber auch sonst immer
wieder, findet man bei sorgfältigem Lesen und Vergleichen mit dem
jeweiligen Original herrliche Wortspiele und Anspielungen, wie zum
Beispiel die wenigen Einsprengsel aus "Alice im Wunderland", die so fein
verändert sind, dass sie nur beiläufig auffallen.
Als Nächstes sorgt ein fliegender Teppich, der von Soraya von Ott (die
eine frappierende Ähnlichkeit mit Lukas Mutter zu haben scheint)
gesteuert wird, und nicht irgendeiner, sondern der fliegende Teppich König
Salomons, für die spannende Weiterreise der bunten Gruppe.
Durch den Nebel der Zeit dringt die Gruppe immer weiter zum eigentlichen
Ziel, dem Lebensfeuer, vor. Vermeintlich angekommen, muss Luka noch eine
Unmenge an Exgöttern und seinen eigenen Glauben
überwinden.
Wie in jedem guten Märchen,
muss es, wenn auch mit kleinen Abstrichen, einen glücklichen Ausgang
geben. Im großen Finale zieht Salman Rushdie dann alle Register seiner
Kunst, und Luka rettet natürlich mit Hilfe seiner Mitstreiter seinen
Vater.
Wer die wundersame Märchenwelt der Abenteuer des älteren Bruders Harun
begeistert gelesen hat, wird auch hier, wenngleich die Welt der Computerspiele
unauslöschlicher Teil der Geschichte ist, seine Freude am Lesen haben.
"Luka und das Lebensfeuer" ist eine herrliche Geschichte für große
Kinder und Erwachsene, die hin und wieder gerne in eine literarische
Märchenwelt abtauchen. Und in diesem Bereich ist Salman Rushdie ein
würdiger Nachfolger von Lewis Carroll.
(Roland Freisitzer; 04/2011)
Salman
Rushdie: "Luka und das Lebensfeuer"
Übersetzt von Bernhard Robben.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2011. 268 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2012.
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Zwei weitere Bücher des
Autors:
"Quichotte"
zur Rezension ...
"Joseph Anton. Die
Autobiografie"
Am Valentinstag, dem 14. Februar 1989, erhält Salman Rushdie den Anruf
einer "BBC"-Reporterin und erfährt, dass der Ayatollah Khomeini ihn "zum
Tode verurteilt" hat. Zum ersten Mal hört er das Wort "Fatwa".
Sein Vergehen? Einen Roman mit dem Titel "Die satanischen Verse"
geschrieben zu haben, dem vorgeworfen wird, sich "gegen den Islam, den
Propheten und den Koran" zu richten.
So beginnt die außergewöhnliche Geschichte eines Schriftstellers, der
gezwungen wird, unterzutauchen und in ständiger Begleitung einer
bewaffneten Polizeieskorte von Aufenthaltsort zu Aufenthaltsort zu
ziehen. Als die Polizei ihn auffordert, sich einen Decknamen zuzulegen,
wählt er eine Kombination aus den Vornamen seiner
Lieblingsschriftsteller Conrad
und Tschechow
- Joseph Anton.
Was heißt es für einen Schriftsteller und seine Familie, über neun Jahre
lang mit einer Morddrohung zu leben? Wie gelingt es ihm, weiter zu
schreiben? Wie beginnt und endet für ihn die Liebe? Wie fest hat die
Verzweiflung sein Denken und Handeln im Griff, was lässt ihn straucheln,
und wie lernt er, Widerstand zu leisten? Zum ersten Mal erzählt Salman
Rushdie seine beeindruckende Geschichte; es ist die Geschichte eines der
entscheidenden Kämpfe unserer Zeit: der Kampf um die Meinungsfreiheit.
Rushdie erzählt vom teils bitteren, teils komischen Leben unter
bewaffnetem Polizeischutz und von den engen Beziehungen, die er zu
seinen Beschützern knüpfte; von seinem Ringen um Unterstützung und
Verständnis bei Regierungen, Geheimdienstchefs, Verlegern, Journalisten
und Schriftstellerkollegen; und davon, wie er seine Freiheit
wiedererlangte.
Ein einzigartig offenes, aufrichtiges Buch: fesselnd, provokant,
bewegend und lebenswichtig. Denn das, was Salman Rushdie durchlebt hat,
ist der erste Akt eines Dramas, das sich tagtäglich irgendwo auf dieser
Welt vollzieht. (C. Bertelsmann) zur
Rezension ...
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