Leo Perutz: "Wohin rollst du, Äpfelchen ..."
"Wohin rollst du, Äpfelchen
..." beginnt gegen Ende des Ersten
Weltkrieges mit der Rückkehr einer Gruppe von Kriegsgefangenen aus
der Gefangenschaft in Russland.
Eine Gruppe geschundener österreichischer Kriegsgefangener, die sich im
Lager geschworen hat, zurückzukehren und am rücksichtslosen Peiniger,
dem sadistischen Lagerkommandanten Seljukow, Rache zu nehmen. Im Zentrum
dieser Gruppe kehrt der ehemalige Offizier Georg Vittorin nach Wien
zurück, der allerdings schon im Zug die ersten Hinweise erkennt, dass
ihm die Rache wichtiger ist als den Anderen.
Zurück in Wien versuchen alle, so gut wie möglich in ihr Leben vor der
Gefangenschaft zurückzukehren. Auch Georg Vittorin hätte viele Gründe
und Möglichkeiten, in Wien zu bleiben. Abgesehen von seiner Familie,
allen voran die Schwestern Lola und Vally, gibt es noch Franzi, die in
Vittorin verliebt ist und bereits sehnsüchtig auf Georg Vittorins
Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft gewartet hat.
In Wien merkt er rasch, dass seine ehemaligen Mitgefangenen jegliche
Rachegelüste abgelegt haben und eigentlich nur mehr in Ruhe ihr Leben
neu aufbauen möchten. Einzig Kohout schließt sich ihm aktiv in seinen
Plänen für den Rachefeldzug gegen Seljukow an.
Hier bereits lässt Leo Perutz auf beeindruckende Art und Weise Georg
Vittorins unbeirrbaren, fanatischen Charakter erkennen, der sich durch
keine rationalen Warnungen vom Weg abbringen lässt.
Eindrucksvoll schildert Leo Perutz Wien und das Leben in Wien zu der
Zeit. Wien, das sich von den Resten des Habsburgerreiches
löst und die Nachkriegswirren und Entbehrungen hinnehmen muss.
Und trotzdem halten Georg Vittorin die Gefühle für Franzi, obwohl es
nicht Liebe zu sein scheint, fast von seinem Vorhaben ab, und man spürt,
dass er, wäre Kohout nicht mit den bereits ausgestellten Pässen,
Genehmigungen und nur für den an dem Abend fahrenden Zug gültigen
Fahrkarten aufgetaucht, möglicherweise gar nicht Protagonist der nun
folgenden Geschichte geworden wäre.
Zur großen Enttäuschung Franzis nimmt er den von ihr liebevoll geplanten
Abend nicht an und teilt ihr mit, dass er gleich wieder weg müsse,
nämlich zum Bahnhof, auf nach Russland.
Nun beginnt Vittorins durch keine Opfer aufzuhaltende Odyssee. Vittorin
scheint sich schlecht für seine Begleiter auszuwirken, da alle,
beginnend mit Kohout, aus verschiedenen Gründen zurückbleiben, oder gar
sterben müssen.
Durch die Wirren des Bürgerkrieges in Russland kämpft er sich, bis er
nach einigen Jahren im damals unter dem Viermächtestatut stehenden
Istanbul auftaucht, wo er, noch immer unfähig, wirklich zu lieben, eine
leidenschaftliche, doch lieblose Beziehung zu einer Tänzerin unterhält.
Fast wie im Zeitraffer erscheinen dann auf dem Weg nach Wien über Paris,
Brüssel und Salzburg alle Bekannten aus den Tagen vor Vittorins Rückkehr
nach Russland, und während Franzi nun in Paris so etwas wie eine
Animierdame ist, ist der ehemalige Untermieter, den Vittorin seinerzeit
als dubiosen Charakter eingestuft hatte, nun Präsident des C.L.F.
Konzerns und ein sehr einflussreicher und reicher Mann.
Doch Georg Vittorin trauert den verlorenen Möglichkeiten nicht nach und
begibt sich, wieder zurück in
Wien, weiter auf die Suche nach Seljukow, den er in Wien auch
wirklich auffindet.
Dass sich der Kreis am Ende auf überraschende Art und Weise schließt und
Leo Perutz die Sinnlosigkeit des mehrjährigen Rachefeldzugs von Georg
Vittorin damit fast ins Banale karikiert, ist ein Geniestreich des
Autors, der mit diesem Roman einen weiteren Beweis für seine Wichtigkeit
geliefert hat.
Obwohl sich "Wohin rollst du, Äpfelchen ..." vermeintlich leicht und
spannend liest, mit manchmal recht üppigem Gebrauch des damaligen Wiener
Dialekts, sind es hauptsächlich die tragischen, eindringlichen Szenen,
die im Gedächtnis haften bleiben. Sei es eine Szene im düsteren,
nebeligen Wien, oder in der eisigen Kälte des russischen Winters, oder
in Gefangenschaft; man liest die scheinbar mit flockiger Leichtigkeit
geschriebenen Szenen, während man mit Staunen merkt, dass man atemlos
zurückbleibt und schockiert zur Kenntnis nimmt, was da soeben passiert
ist. Die Kunst, mit wenigen Worten eine Szene zu schaffen, in der der
Leser zum Beispiel fast die Feuchtigkeit des Nebels auf seiner Haut
spürt, oder die eisige Kälte im russischen Lager, beherrschte Leo Perutz
definitiv. Spannend liest sich der Roman, und während man atemlos liest,
merkt man bald, wie viele Schichten da unter der spannenden,
abenteuerlichen Oberfläche schimmern, nur darauf wartend, entdeckt zu
werden.
Leo Perutz war ein begnadeter Erzähler, der Großes geschaffen hat
und viel zu sagen hatte. Ein Autor, der die Zeit unverständlicherweise
leider viel zu unbeachtet überstanden hat.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 03/2011)
Leo
Perutz: "Wohin rollst du, Äpfelchen ..."
Zsolnay, 2011. 269 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen