Orhan Pamuk: "Cevdet und seine Söhne"


"Cevdet und seine Söhne" ist, obwohl erst jetzt ins Deutsche übersetzt, Orhan Pamuks erster Roman, den er zwischen 1974 und 1978 geschrieben hat.

Obwohl sich Orhan Pamuk sichtlich an Thomas Manns "Buddenbrooks" und Leo Tolstois "Anna Karenina" orientiert, entwickelt er bereits hier eine eigenständige Sprache, einen eigenen Stil, den er in den darauffolgenden Romanen immer weiter in das Reich der poetischen Sprache von "Schnee" oder "Mein Name ist Rot" führen wird.

Cevdet ist Türke und Kaufmann, eine rare Kombination im Istanbul des Jahres 1905. Zu dieser Zeit wird der Handel hauptsächlich von jüdischen und griechischen Kaufmännern beherrscht. Ein türkischer Kaufmann wird zu dieser Zeit noch belächelt. Eine Zeit, die das nahende Ende des Osmanischen Reiches schon erahnen und die nahenden Umwälzungen in Europa bereits spüren lässt. Cevdet flaniert durch die Straßen und beobachtet, sinniert über das Leben und über seine Zukunft nach.

Die Tochter eines einflussreichen aber redseligen und nervigen Paschas ist ihm als Frau versprochen, gesehen hat er sie zweimal, gesprochen einmal. Ein Gespräch, das zwar nur aus "Wie geht es dir? Danke, gut, und wie geht es Dir" bestanden hat, das Cevdet aber von der Gutherzigkeit seiner zukünftigen Frau Nigan überzeugt hat. Hier ist auch ein wichtiger Ausgangspunkt für eine Entwicklung in diesem Roman sichtbar. 1905 ist das gemeinsame Leben von Frauen und Männern auf das Heim und die Familie sowie ganz wenige Berufe beschränkt.
Und so gründet Cevdet sein "Imperium", das ihm und seinen Söhnen in Zukunft ein ruhiges, angenehmes Leben ermöglichen wird.

In "Cevdet und seine Söhne" gibt es immer wieder Figuren, die sich im Sinne einer Reform, eines Andersseins oder aus Lust an der Reaktion als Außenseiter, Querulanten, Nörgler und hoffnungslose Möchtegernphilosophen entpuppen. Diese Riege wird von Cevdets todkrankem Bruder eröffnet, der nach der Scheidung von seiner Frau quasi in wilder Ehe mit einer Armenierin zusammenlebt, einer Frau, die Cevdet einerseits als sinnlich empfindet, andererseits aber aus moralischen Gründen ablehnt.

Dreißig Jahre später beginnt der zweite Teil des Romans. Er beginnt bezeichnenderweise in einem Zug und stellt zugleich einen Freund von Refik, einem der beiden Söhne Cevdets, vor. Ömer, der davon träumt, Eroberer zu sein, im Sinne Rastignacs, als Genie des Ehrgeizes und der Ruchlosigkeit.

Cevdet ist nun Familienoberhaupt und genießt das Leben mit seinen Kindern und seiner Frau.
Man ist als Leser Zeuge eines Bayram-Festes, das Pamuk dafür nutzt, einen Bogen zum ersten Teil zu schlagen und die Beziehungen innerhalb der Familie zu beleuchten. Die beiden Söhne sind verheiratet, der ältere Osman ist bereits der Nachfolger im Unternehmen, während Refik hauptsächlich mit dem Träumen beschäftigt ist. Viel hat sich verändert, die Kleiderordnung ist seit der Machtübernahme Kemal Atatürks viel freier geworden, Frauen und Männer kommunizieren oberflächlich betrachtet locker miteinander, und hie und da gibt es sogar die ersten Beispiele einer Heirat aus eigenständigem Begehren.

Refik und seine Freunde werden hier symbolisch für die diversen Tendenzen der damaligen Zeit beleuchtet.
Während Ömer sich in die studierende und intelligente Tochter eines Abgeordneten verschaut, zugleich aber als strategisch kluger Jungunternehmer in den Norden geht, um am Kuchen des Eisenbahnbaus mitzunaschen, wird er sukzessive mehr und mehr zu dem, der er nicht sein wollte. Sein einziger Ausweg am Ende ist es, die Verlobung sausen zu lassen.
Muhettin, der, wenn er mit 30 noch kein berühmter Poet ist, mit Selbstmord reagieren will, veröffentlicht zwar einen Gedichtband, wird aber kein berühmter Lyriker. Als Mann ohne wirklichen Willen wird er mehr oder weniger durch Zufall Teil der neuen nationalistischen Bewegung, die darauf bedacht ist, die Reformen zu verhindern. Refik flieht vor seiner Frau und aus dem Elternhaus, um sich selbst zu finden und tut das bei Ömer im Norden, quasi als philosophierendes Anhängsel.

Fast überzeichnet ist die Willenlosigkeit und Hin- und Hergerissenheit der jungen Männer, die im Angesicht der großen Veränderungen der Zeit nur träge damit umgehen können und sich nicht trauen, so zu handeln, wie sie möchten. Auch da ist eine Ähnlichkeit mit dem Vorbild Leo Tolstoi zu erkennen. Die Protagonisten zerfleischen sich selbst, doch während sie bei Tolstoi dann beispielsweise doch auf alles verzichten und einem Mädchen in ein Arbeitslager durch ganz Russland nachreisen, ist die größte Auflehnung hier fast die Absage der Verlobung Ömers.

Die Entwicklung der Möglichkeiten der Frauen in diesem Roman ist sehr interessant. Während im ersten Teil noch absolute patriarchalische Strenge geherrscht hat, ist bereits im zweiten Teil eine Veränderung zu spüren, die fast nur mehr durch eifersüchtige Brüder oder rückständige Männer behindert wird. Osmans Frau rächt die Seitensprünge des Ehemanns mit einem eigenen Geliebten, eine Entwicklung, die von beiden mehr oder weniger stillschweigend toleriert wird. Am Ende des zweiten Teils stirbt Cevdet. Damit ist die Bühne des Romans frei für die Kinder und Enkelkinder im abschließenden dritten Teil, der 1970 angesiedelt ist.

Bezeichnend für die Entwicklung der weiblichen Protagonisten ist hier auch, dass Orhan Pamuk die Krankenschwester, die sich in Nigans letzten Tagen um sie kümmert, in ihren Pausen frei zu den Büchern in der Familienbibliothek greifen lässt, was bei Cevdets nunmehr nicht mehr jungen Söhnen doch noch zu einem Aha-Erlebnis führt. 

"Cevdet und seine Söhne" ist ein wunderbar informativer und beeindruckender Roman, der sich näher zum Ende hin etwas in ewig lang anmutenden politischen Diskussionen und Gedankengängen verliert, die den Lesefluss etwas trüben. Eine Entwicklung, die aber durch das genialische Ende fast komplett wegradiert wird. "Cevdet und seine Söhne" ist ein grandioser Startschuss in Orhan Pamuks Schriftstellerkarriere und ein immens wichtiger Roman für die türkische Literatur. Er ist aber auch ein Familienroman, ein Generationenroman, ein Entwicklungsroman und ein wunderbares Porträt eines Landes im Wandel der Zeit. Zusätzlich, und das vielleicht sogar mehr als alles Andere, ist "Cevdet und seine Söhne" ein tiefgehendes Gesellschaftsbild und Entwicklungsroman einer Gesellschaft, die in diesem ruhigen mosaikähnlichen Prosafluss porträtiert wird

(Roland Freisitzer; 04/2011)


Orhan Pamuk: "Cevdet und seine Söhne"
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Hanser, 2011. 665 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Der naive und der sentimentalische Romancier"

Was geht in uns vor, wenn wir einen Roman lesen? Was macht seine einzigartige Wirkung aus? Und wie geht die Verwandlung von Wörtern in Bilder vor sich? In den Vorträgen, die Orhan Pamuk an der Universität Harvard hielt, geht er diesen Fragen nach. Dabei beruft er sich auf Schillers berühmten Aufsatz von der naiven und der sentimentalischen Dichtung, auf Homer, Thomas Mann und viele Andere. In seinem originellen, persönlichen und kurzweiligen Buch erzählt Pamuk, nach eigenem Bekunden ein "ekstatischer Leser", von seiner Lektüre und seinen eigenen Werken. Dabei vergisst er nie, dass es sich beim Lesen um einen lustvollen Vorgang handelt. (Hanser)
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