Albert Ostermaier: "Schwarze Sonne scheine"


Leben ist Sterben ist Dichten ist Sein unter Fragen
Albert Ostermeiers Roman "Schwarze Sonne scheine" philosophiert über die Möglichkeit der Kunst in unseren Zeiten


"Es ist ein tödlicher Herpesvirus", hatte sie am Telefon gesagt, "äußerst selten, aber absolut tödlich. Ein halbes Jahr. Maximal."

Sebastian hat ein Problem. Er wird sterben. Sebastian ist jung, er hat Klara, und er ist Dichter.  Die ärztliche Prophetin und diese seine einzige Helferin, die ihn auf der Stelle zur Heilung mit nach Atlanta nehmen will, heißt Sibylle Scher. "Wenn, dann kann nur einer Sie retten, und das bin ich." Und dann ist da noch Silvester, Sebastians engster Vertrauter aus Kindertagen. Er war der Retter seiner Schullaufbahn und engster Vertrauter.

"Und ich vertraute Silvester. Wem, wenn nicht ihm, [...] der als erster den Künstler in mir sah. [...] Er war die Kirche, die unfehlbare, aber er war fehlbar, und so fehlte nicht die Schwäche, die Vertrauen schafft, die das Unerreichbare auf Augenhöhe bringt" (14).

Sebastians Namenstag und Gedenktag des heiligen Sebastian ist der 20. Januar, ein Datum, vom dem schon Paul Celan in seiner Meridian-Rede zum Erhalt des "Büchner-Preises" gesprochen hatte. Dabei geht es um den 20. Januar 1942, das Datum der Wannsee-Konferenz, auf dem die "Endlösung" der Judenfrage "organisiert" wurde. Paul Celan bezieht sich hier auf Büchners Lenz, der "am 20. Jänner durch's Gebirg [ging], [...] nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Und er behauptet in seiner Meridian-Rede, dass jedem Gedicht sein 20. Jänner eingeschrieben sei.

Sebastian nun, der Protagonist und sterbenskranke Dichter des Romans von Albert Ostermeier, scheint in ähnlicher Situation wie Lenz zu sein, er ist im Begriff des Wahnsinns, denn er weiß nicht, wem er vertrauen kann. Er weiß nicht, wo er im Leben steht. Und gleichzeitig scheint sich, im Rahmen der oben auch ausgeführten impliziten Bezugsrahmen, die Frage nach dem Schreiben, ja der Kunst in gegenwärtigen Zeiten überhaupt zu stellen. Denn Sebastian ist mit der Konfrontation des baldigen Todes auch mit dem Sterben seiner eigenen schriftstellerischen Unsterblichkeit konfrontiert.

Dem Roman sind drei sich auf interessante Weise miteinander verquickende Epigraphen vorangestellt. Henry Miller, der über seinen Schreibgrund philosophiert ("Als ich zu schreiben anfing, wollte ich nichts als die Wahrheit über mich erzählen. Welch vergebliches Unterfangen. Was kann es Fiktiveres geben als das eigene Leben?"), Albert Camus, der als Person das Motto der Fragen zur Existenz mit sich trägt, und "Soundgarden", die Albert Ostermeier mit Zitaten aus dem Lied "Black Hole Sun" aufwarten lässt, die Camus-pestähnliche Assoziationen wecken ("[Dass] vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.") und auf der Ebene der Textsorten nicht nur den Verweis auf die Musik zu den klassisch zitierfähigen Klassikern stellt, sondern vor allem eine Lebensbezüglichkeit, ein Motto voranstellt, das dem platonischen Höhlengleichnis mit nickendem Kopf beizukommen vermag. Was erkennen wir im Leben, und wem können wir eigentlich vertrauen?

Sebastians Umgang mit der tödlichen Nachricht äußert sich vor allem in der Unsicherheit. Er weiß nicht, wem er Glauben schenken soll. Eine zweite Untersuchung soll ihm helfen. In der Zwischenzeit reflektiert er über sein Schreiben, seine Herkunft. Er fährt Auto, die Zeitebenen, die Erinnerung und das Jetzt vermischen sich.

"Es hatte zu schneien angefangen, dicke, schwermütige Schneeflocken ließen sich aus dem grauen Himmel fallen, rutschten missmutig über die Kühlerhaube oder wurden vom Scheibenwischer an den Rand gedrängt, weggeschoben" (55).

Sebastians Individualität verschwimmt mit den unterschiedlichsten, meist auf Krieg und politische Wirren ausgerichteten Informationen. Seine Erinnerungen werden zum Kollektiv der Zeitgeschichte. Ein paar Gedichte, ein Drama hatte Sebastian geschrieben, "Ein Einakter, 'Feldpost', der nach Samuel Beckett und Heiner Müller klang". Nicht nur hier wie in den Motti klingt das Einschreiben in die Tradition der Literatur an. Trans- bzw. Intertextualität ist ein bis zum Überborden genutztes Verfahren Albert Ostermeiers in diesem Roman. Damit werfen sich Fragen nach der Vergangenheit auf, so wie der Protagonist im Sich-Einverleiben der Zeitgeschichte und dem Sprung zwischen den Geschehnissen ohne Bezugs- und Kontextualisierungsrahmen das Ich im bestimmenden Selbstvollzug aufhebt, so wird im expliziten und impliziten Zitat die Individualität der Literaturschöpfung in Frage gestellt. Und eben die Frage danach gestellt, was Kunst nun für eine Relevanz habe, wenn die Menschen sterben, weil das Böse in der Welt weilt.

"Kinder und Frauen kampieren in Zelten und Notunterkünften im wilden Kurdistan. Karl May erfriert nicht, aber die Kinder ohne Decken. [...] Der Krieg ist beendet, der Krieg bricht aus, er stirbt, er stirbt nicht, er stirbt, er stirbt nicht, ich sterbe, ich sterbe nicht." (141)

Dieser Satz ist paradigmatisch für die Verflechtung von Ich und politischem Umfeld. Doch dem entgegen steht dann doch der eigene Wille, das, was man Individualität nennen muss. Der eigene, einzelne Weg, der gegangen werden muss. Sebastians Wille zum Schreiben, trotz der steten Gefahr, die ihm gegenüber steht und des Unglaubens, in seinem Körper, in dem er sich so gesund fühlt, die Krankheit sich regen und ihn einnehmen zu erleben.

"Ich hatte einen Anfang, einen Anfang, einen Grund. Ich konnte jetzt nicht sterben, ich konnte nicht sterben, bevor Toller gestorben war. Ich hatte ihn doch gerade erst zwischen den Satzschenkeln auf die Welt geworfen." (139)

In der Trias zwischen Toller, der sterben soll und vom sterbenden Sebastian geschaffen wird, und dem impliziten Autor Albert Ostermeier, der über das Sterben und das Schreiben fabuliert, stehen viele Verweise auf Politisches, auf Grundsatzfragen im Leben. Die schwierige Beziehung Sebastians zu seinen Eltern und jener zu seiner Freundin Klara werfen auch Fragen des alltäglichen Lebens auf, das Verwischen zwischen Einzelperson und Kollektivschicksal wird durch den bewusstseinsstromartigen Stil Ostermeiers und durch die Fragenverzweigungen in dem Roman perfekt inszeniert. Der Leser bleibt auf der ersten Hälfte des Buches genau so im Unklaren wie der Protagonist selbst, eins nach dem anderen rücken sich die Paradigmen zusammen: Denn die sich immer wieder wiederholenden Fragen schnüren die Knoten. Ob Sebastians Fragen für den Leser, der, wie der Klappentext verspricht, einen "rasanten Thriller" erwartet, notwendig sind, steht in den Sternen. Wie Paul Celan stellt Albert Ostermeier aber wichtige Fragen über die Kunst und ihre Relevanz. Die Dialektik der Negation der Kunst im Selbstvollzug wiederum steht für sich selbst. Die Relevanz der Kunst wird in der Kunst gemacht. Albert Ostermeier hat einen klugen Roman über das Sein und die Kunst in unserer Gegenwart geschrieben, ohne sich zwischen Ahistorität und akuter Aktualität zu entscheiden. Es gilt, die vielen Bezüge, die er hier malt, genauer zu erforschen. Leider nur, und das ist ein kleines, am Rande zu erwähnendes Manko des Buches, versickert die Aufmerksamkeit des Lesers immer wieder in der steten Wiederholung der immer gleichen Fragen Sebastians, da Handlung suggeriert wird, wo keine entsteht. Dennoch: Dies ist ein Buch, mit dem man sich Jahre beschäftigen kann. Eine wahre Fundgrube.

(Christin Zenker; 06/2011)


Albert Ostermaier: "Schwarze Sonne scheine"
Suhrkamp, 2011. 288 Seiten.
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