Cees Nooteboom: "Schiffstagebuch"
Ein Buch von fernen Reisen
Reisen als Welterfahrung
Cees Nooteboom ist zweifelsohne einer der bedeutendsten niederländischen
Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane,
Erzählungen, Berichte, Lyrik - und Reiseberichte, die er wie kein
Anderer zu einer angesehenen literarischen Gattung entwickelt hat.
Welchen Stellenwert dem Reisen und Schreiben in seiner Arbeit als
Schriftsteller zukommt, zeigt allein schon der Umstand, dass vier Bände
seiner auf Deutsch erschienenen neunbändigen Werkausgabe bei Suhrkamp
Reiseberichte enthalten. Eine Leidenschaft, die nicht ungewöhnlich
begann, als er als Jugendlicher in den 1950er-Jahren quer durch Europa
fuhr und dann auf einem Schiff als Matrose in der Karibik anheuerte, die
sich dann aber unaufhörlich mit unzähligen Reisen auf allen Kontinenten
fortsetzte, allmählich zu seiner ureigentlichen Lebensform und
Arbeitsgrundlage wurde und sich zu einer hochentwickelten Kunst des
Reisens und Schreibens entfaltete.
Reisen ist Bewegung. Nooteboom auf Reisen. Er ist kein
Reiseschriftsteller, kein Reisejournalist, sondern im klassischen Sinn
ein Dichter und Denker, der auf seinen Reisen die Welt beobachtet,
aufnimmt und beschreibt. Der mit profundem Wissen, Neugier und
neuerworbenem Wissen, mit Offenheit und ironischem Staunen diese fremde
Umwelt in sein Universum aufsaugt und analysiert, und für uns mit der
Macht der Sprache bunte, vielfarbige Bilder malt. Im gegenständlich
besprochenen Buch nimmt er seine Leser auf Schiffsreisen mit, die mit
der Langsamkeit der Fortbewegung auch die Blicke und Sinne zu schärfen
scheinen. Er umrundet die Südspitze Lateinamerikas und benötigt nur ein
paar Sätze, um das Leben am Ende des Festlandes zu skizzieren, erzählt
von Fischerei, Schafzucht, Polarexpeditionen, von Verbannung und
Einsamkeit. Er beschreibt seine Besuche in Museen, dieser bewahrten Welt
aus Fotos, und erklärt die Geschichte zum Gedächtnis der Zukunft. Weiter
geht es dann über Land durch Patagonien
bis nach Bolivien, er besucht Städte wie Montevideo und Buenos Aires,
die hier den Schriftstellern gehörten: "Ich bin von Neruda
zu Onetti
gefahren und von Onetti zu Borges
und Gombrowicz, zu Ocampo
und
Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen."
Andere Reisen führen ihn die Südostküste Afrikas entlang, wo er die
Faszination der Inseln als geschlossene Welten sucht, die ihr eigenes
buntes Leben führen. "Eine kleine Insel ist zugleich ihr Gegenteil,
das heißt ein Kosmos." Mauritius, Réunion, Madagaskar. Und wieder:
"Der unberechenbare Kochtopf der Geschichte". Südafrika und sein
burisches Hinterland. Stellenbosch und unbekanntes Sehenswertes.
Nooteboom schreibt keine Reiseführer, sondern über das Reisen als
Aneignung der Welt. Er lässt den Leser alles mit seinen Augen sehen.
Deshalb erscheint es müßig, alle Orte, alle Länder und Kontinente
anzuführen, in die er uns entführt. Der Vollständigkeit halber sei aber
doch erwähnt, dass das "Schiffstagebuch" viele weitere Reisekleinode
enthält. Über Indien, als einer neuen Welt, wo einen die schiere Masse
des Sichtbaren erdrücken kann, über Mexiko, Bali, Australien, bis nach
Spitzbergen werden wir als Leser entführt. Jeder Kontinent ist dabei,
und jeder Ort ist eine faszinierende Welt für sich.
Aber welche Orte reizen diesen vielreisenden Kosmopolit? "Ausnahmeorte",
schreibt er, "habe ich seit jeher geliebt. Man schaut auf die Karte
und ist verloren." Die exponiertesten Orte sind selbstverständlich
die begehrtesten Ziele. "Unausrottbar, der Drang zum weitest
entfernten Punkt." Kap Agulhas in Südafrika, Kap Hoorn an der
Südspitze Südamerikas, Spitzbergen im nördlichsten Europa. Dazu kommt
für Nooteboom auch stets die Verführung der Namen, von Karten und die
Begierde, die sie auslösen. Aber es geht nicht nur um die nördlichsten
und südlichsten Orte dieser Welt, nicht um Einöden, sondern oft auch um
vergessene Orte. Wie z.B. Broome in Australien, einst Perlenhauptstadt
der Welt, dann im Zweiten Weltkrieg tragischer Kriegsschauplatz für
einen Tag. Die Anziehungskraft der Ausnahmeorte bestätigt sich an der
Faszination der lokalen Geschichte als Doppelmuster, als "das
der großen Bewegung der Geschichte
und das des individuellen Geschicks oder Verhängnisses."
An einer Stelle, hoch im Norden Chiles, fragt er sich selbst etwas
verwundert, warum er das alles macht. Nicht unbedingt das Reisen, obwohl
er schon ein gutes halbes Jahrhundert auf diesem Planeten reisend,
schauend und schreibend unterwegs ist, aber dieses akribische
Aufzeichnen und Beobachten; was wird ihm davon bleiben? Und er kommt für
sich zu dem Schluss, dass wenn er auch nichts behält, "unsichtbar
werde ich das Vergessene dieser merkwürdigen Buchhaltung mit mir
tragen." Alles verschwindet, nichts geht verloren.
Cees Nootebooms Texte nehmen uns mit an Orte, die wir so nie sehen
werden, und in Welten, die wir so nicht kennen. In diesem Sinne nehmen
sie uns tatsächlich mit in die Ferne. Die Schwarzweißfotos von Simone
Sassen sind eine wunderbare Ergänzung zu den Worten, um die Distanz zu
veranschaulichen.
Nein, er ist kein Reiseschriftsteller. Cees Nooteboom ist ein
schreibender Reisender und ein reisender Philosoph, dem man zuzuhören
nicht müde wird.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 04/2011)
Cees
Nooteboom: "Schiffstagebuch. Ein Buch von fernen Reisen"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Mit Fotos von Simone Sassen.
Suhrkamp, 2011. 283 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Noch ein Buchtipp:
Birgit
Pelzer-Reith: "Tiger an Deck. Die unglaublichen Fahrten von
Tieren und Pflanzen quer übers Meer"
Die Kartoffel
zum Schnitzel, die Rose
im Garten, das Meerschweinchen im Kinderzimmer: heute eine
Selbstverständlichkeit. Heimisch jedoch waren sie auf entfernten
Kontinenten, und erst mit Beginn der Neuzeit - durch die Fortschritte in
Nautik, Kartografie und Navigation - verwandelten sich die Meere in
Brücken, die den Weg freimachten für weltweiten Austausch und Handel.
Davon, wie Tiere und Pflanzen zu unterschiedlichsten Zwecken über die
Ozeane transportiert wurden, als Nahrungs- und Genussmittel,
Staatsgeschenke, als Zoo- und Zirkustiere, handelt dieses Buch. (Und
auch die kleineren und größeren Überfahrtsdebakel kommen nicht zu kurz.)
Anekdotenreich und informativ erzählt "Tiger an Deck" von den
Herausforderungen des Seetransports im Lauf der Jahrhunderte: von der
abenteuerlichen Reise der Kaffeepflanze,
von den Brotfruchtbäumen, die bei der Meuterei auf der "Bounty"
über Bord gingen, von dem in den Meeresfluten versinkenden Rhinocerus
aus Goa, von der Erfindung der Orangenmarmelade und zwei großen
Pandabären, die Helmut Schmidt 1980 vom chinesischen Regierungschef
geschenkt bekam - kurz: von den unglaublichen Fahrten der Tiere und
Pflanzen quer übers Meer. (Mare)
Buch bei amazon.de bestellen