Herta Müller: "Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel"
"Kindheit ist
wahrscheinlich der verworrenste Teil des Lebens. Es wird in
daumenkleinen Details, die wir später mit einem glatten zweisilbigen
Wort KINDHEIT nennen, so viel gleichzeitig aufgebaut und abgerissen
wie später nie wieder."
Der titelgebende Essay von Herta Müller, "Immer derselbe Schnee und
immer derselbe Onkel", spricht davon, dass alles immer etwas Anderes
wurde, wenn man etwas in Worte packte. Herta Müller ist dreisprachig
aufgewachsen. Das mag vielleicht verwundern. Herta Müller wird ja als
deutsche Autorin gehandelt, nicht zuletzt seit sie im Jahr 2009 den Literaturnobelpreis
erhalten hat. Zuschreibungen, Bedeutungen, die durch wörtliche
Zuschreibungen entstehen. Und was diese Bedeutungen kreieren. Das ist
auch Herta Müllers Feld.
In dem kleinen Nitzkydorf, in dem Müller geboren wurde, wuchs sie mit
dem Banatdeutschen auf. Als sie in die Grundschule kam, lernte sie
Hochdeutsch. Das Rumänische war schon immer als ein Anderes gegenwärtig,
auch wenn sie erst später in der Stadt Rumänisch lernte.
In dem sehr lohnenswerten Hörbuch "Die Nacht ist aus Tinte gemacht"
spricht Herta Müller über ihre Kindheitseindrücke. Dort sagt sie unter
Anderem über ihr sprachliches Aufwachsen: "Und wenn ich dann dachte,
ich will jetzt Hochdeutsch sprechen, dann wurde es auch falsch. Also
ich dachte, wenn man sagt, das Brot im
Dialekt, dann müsste man im Hochdeutsch anders sagen. Dann habe
ich Brat gesagt, weil ich dachte, das klingt eleganter." Darin
erkennt sich nicht nur ein kindlicher Kopf, der viele Gedanken hegt. Es
spielt auch eine wahrlich große Unsicherheit im Spiel der Bezeichnung
eine bedeutende Rolle. Sicherlich auch für die Entwicklung des
Schreibstils, den die Schwedische Jury durch "Verdichtung der Poesie
und Sachlichkeit der Prosa" als "Landschaften der
Heimatlosigkeit" bezeichnete. Der auch ein wenig entfremdende Stil
der fiktionalen oder prosalyrischen bzw. collagelyrischen Texte Herta
Müllers ist, das kann man an den Essays und Vorträgen in "Immer derselbe
Schnee und immer derselbe Onkel" erkennen, nicht erst durch die
prägenden Erfahrungen der Diktatur geboren worden. Der Blick für den
Unglauben dessen, was Worte können, reifte schon viel früher. Herta
Müller hat dafür den wundervollen Ausdruck der "Augen der Sprache".
Und immer scheint bei Müller da auch Angst im Spiel zu sein. Die Angst,
das Fürchten ist eine drängende Kategorie in ihrem Schreiben.
"Das war vielleicht eine Sucht, diese im Kopf abgebildeten
Gegenstände mit ihren vagabundierenden Eigenschaften. Ich suchte sie
fortwährend, deshalb suchten sie mich. Sie liefen mir wie eine Meute
nach, als würde ich sie mit meiner Angst füttern. Wahrscheinlich
fütterten sie mich, gaben meiner Angst ein Bild."
Die junge Herta Müller erfindet für die Dinge, die ihr Angst machen,
Geschichten. Die Gegenstände und Arbeiten, die sie erledigen muss, zum
Beispiel das Gießen der Blumen auf den Gräbern, denn die Eltern
schickten ihre Kinder an heißen Sommertagen, dies zu tun. "Zu zweit
oder zu dritt, man blieb von einem Grab zum anderen beisammen, goss
schnell. Dann setzen wir uns eng aneinander auf die Treppen der
Kapelle und schauten, wie aus manchen Gräbern weiße Dunstfetzen
stiegen." (Dieses Zitat ist aus der Rede zur Verleihung des
Nobelpreises "Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis".)
Die Geschichten, die Müller erfindet, sind Verschiebungen des reellen
Geschehens. Um ein emotional überbordendes Erlebnis fassen zu können, so
Müller, muss sie "diebische Sprachbilder" schaffen. "Ich
traue der Sprache nicht. Am besten weiß ich von mir selbst, dass sie
sich, um genau zu werden, immer etwas nehmen muss, was ihr nicht
gehört."
Wer einige Veröffentlichungen Herta Müllers kennt, wird, was hier mit
der Verschiebung des reellen Geschehens bezeichnet wird, nachvollziehen
können. Ich möchte es noch einmal in andere Worte fassen: Die Romane,
aber auch die Kurzgeschichten Herta Müllers tun dies, erzählen
Geschichten, die sich entgegen erzählen, das schwarz auf weiß
geschriebene Wort wird zum Rätsel. Die Handlung des Romans "Der Fuchs
war damals schon der Jäger" wird auf dem Klappentext der
Fischer-Taschenbuchausgabe bereits vollständig angegeben. Es kann da
also nicht um das Geschehen gehen: Dass die Protagonistin Adina mit
ihrem Exfreund Paul flieht, um der Verfolgung der Spitzel zu entgehen,
dass Adina dabei ihre beste Freundin Clara hinter sich lassen muss, all
das (diese inhaltliche Explizitheit) scheint nicht der Hauptstrang des
Erzählens zu sein und zu werden. Vielleicht, mag der Eine oder Andere
denken, ist dieser Klappentext auch so explizit angegeben, weil im
eigentlichen Lesen soviel zwischen schwarz und weiß zu sehen ist, was im
(allzu) pragmatischen Sprachverstehen nicht zu fassen ist. Damit die
Handlung also mitgenommen werden kann, wird sie wenigstens
kontextualisiert.
Es muss demnach im Müller'schen Werk um etwas Anderes gehen, es scheint
das Wie der Sprache
zu sein, das die Autorin fesselt und zum sich immer wiederholenden Spiel
des Schreibens für sie wird. Das Wie macht es möglich, dass sie davon
erzählen kann.
Dass aber der Kontext ihres Lebens, ihres Werdeganges und vor allem der
Erfahrung durch die Diktatur und ihre Folgen nicht aus dem Schreiben
wegzudenken sind, zeigen diese im Buch "Immer derselbe Schnee und immer
derselbe Onkel" versammelten Aufsätze.
Herta Müllers Essays sind traurig, sehr traurig mitunter. Sie zeigen
das, was man so weitläufig Schicksal nennt und doch nicht zu fassen
weiß. Sie beschreiben das stetige Suchen nach Antworten, die man nicht
finden kann und dokumentieren den Versuch und die Weise des Schreibens
Herta Müllers.
Wer Schwierigkeiten mit ihrem fiktionalen Werk hat, wer sich für
Hintergrundwissen zur rumänischen Diktatur, Müllers Leben in Rumänien
und ihrer Kindheit interessiert, dem bietet sich in den hier
veröffentlichten Kurztexten eine wahre Fundgrube an Informationen. Der
Zugang zum Müller‘schen Werk wird tatsächlich anders, man mag versucht
sein zu sagen einfacher, aber ich möchte es nicht zuallererst so nennen,
wenn man ihre Essays und biografischen Texte kennt.
Wenn die Schwedische Akademie auch berechtigterweise davon spricht, dass
Herta Müller mit ihrer Sprache "Landschaften der Heimatlosigkeit"
male, so wird mit der Traurigkeit, die in dieser Beschreibung und
sicherlich auch in den Texten Müllers liegt, Wahres ausgesprochen. Es
wird durch die Lektüre um die Kindheit der heutigen Berlinerin aber auch
offenbar, wie prägend die Eindrücke des dörflichen Lebens für sie
gewesen sind und was für eine Wunderbarkeit, Zwischenmenschlichkeit und
Purheit in den Wortspielen liegt, die Herta Müller in ihrem Schreiben
der Welt anvertraut.
(Christin Zenker; 04/2011)
Herta
Müller: "Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel"
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2011. 256 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Fischer, 2013.
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Ein weiteres Buch der
Autorin:
"Mein Vaterland war ein Apfelkern"
"Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst." So begann
Herta Müller ihre Tischrede nach der Verleihung des Nobelpreises. In
einem langen Gespräch mit Angelika Klammer erzählt sie von ihrem
ungewöhnlichen Lebensweg, der vom Kind, das Kühe hütet, bis zur weltweit
bekannten Schriftstellerin im Stadthaus in Stockholm führt. Sie erzählt
von der Kindheit in Rumänien, vom Erwachsenwerden und dem erwachenden
politischen Bewusstsein, von den frühen Begegnungen mit der Literatur,
den Konflikten mit der Diktatur des Kommunismus und dem eigenen Weg zum
Schreiben. Mit ihrem Bericht vom Ankommen in einem neuen Land fällt auch
ein ungewohnter Blick auf das Deutschland der 1980er- und 1990er-Jahre
und auf die Gesellschaft, in der wir heute leben. (Hanser)
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