Rainer Funk: "Der entgrenzte Mensch"
Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht
Eskapismus oder
Kompensation
Der Autor möchte uns in einigen Lebensbereichen nachweisen, "Warum
ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht."
(Untertitel). Das klingt zunächst unglaublich und fast schon provokant -
der Witz an der Sache ist aber offensichtlich der, dass es kein Leben
ohne "Grenze" gibt, und sei es eben der Tod. Und demzufolge wäre auch
ein Leben ohne "Grenzen" eigentlich auch gar nicht logisch vorstellbar -
ob es tatsächlich wünschenswert wäre, ist noch eine ganz andere nur
scheinbar banale Frage. Das Phänomen der sogenannten "Entgrenzung" mag
ja auch grundsätzlich seine zwei Aspekte haben: Im positiven Sinne quasi
möchte der Einzelne gesellschaftlich bedingte Begrenzungen zumindest
minimieren - im negativen Sinne finden Grenzüberschreitungen häufig
unter kriminellem Vorzeichen oder unter Einfluss von Suchtmitteln statt.
Wie auch immer: Der soziale Friede wird häufig gestört - im günstigsten
Fall entsteht psychedelische Kunst.
Nun entsteht Individualität grundsätzlich nur durch Abgrenzung, und das
Austesten von Grenzen könnte als eine Art menschlicher Sport in
jeglicher Hinsicht interpretiert werden. Man geht bewusst Risiken ein,
man möchte Rekorde brechen - man lebt auf diesem Planeten zwangsläufig
in der Relation und möchte auf der gesellschaftlichen Vergleichsskala
möglichst weit nach oben, besser noch: möglichst eigene Maßstäbe
entwickeln. Das Zusammenleben beruht auf einer Art Kompromiss: Das
Kollektiv garantiert gewisse Bequemlichkeiten, dafür werden gewisse
Regeln für funktionale Abläufe erforderlich. Worum es nun Funk v.a. zu
gehen scheint, ist herauszufinden, inwiefern uns die neue digitale
Technik eher von Grenzen befreit oder neuartige Limitierungen bedingt.
Oder ob die zunehmende Technologisierung uns psychisch eher beflügelt
oder belastet. Es geht jedenfalls grundsätzlich um die Auslotung des
freien Willens, die Unabhängigkeit von "bevormundenden
Institutionen" und die Frage der notwendigen, zwangsläufigen
Veränderung einer Gesellschaft in Details und auch Paradigmen unter
Wahrung einer kollektiven Ordnung und Verbindlichkeit.
Mit Blick auf die Neugestaltung der Produktions- und Warenwelt erkennt
Funk: "Die Herstellung entgrenzender und entgrenzter Wirklichkeit
durch eine entgrenzte Ökonomie stellt zweifellos eine der wichtigsten
Wurzeln für das heute allgegenwärtige Entgrenzungsdenken dar."
Dabei zeigt sich, dass die Entgrenzung durch digitale Technik und
Vernetzung nicht nur einen virtuellen Globus für uns schafft, sondern
dass dieser zusehends die greifbare Realität verdrängt und ersetzt.
Informationen und Geldwertmengen (in Aktien- oder Ölkategorien)
werden heutzutage in solchen schwindelerregenden Mengen um die Erde
gejagt, dass kein ehrlicher Mensch mehr behaupten kann, er verstehe die
Vorgänge geschweige denn, er könne sie steuern. Durch den "fast
völlig raum- und zeitentgrenzten Datentransfer" verfügen
theoretisch alle Menschen über das gleiche Wissen zur gleichen Zeit. Das
führt ganz nebenbei auch dazu, dass Bildung im klassischen Sinne und das
Erkennen von Problemzusammenhängen immer seltener angestrebt werden. Der
dabei vermutete Zuwachs an persönlicher Gestaltungsfreiheit führt
allerdings im Gegenteil zum Verlust von Raum- und Zeitrelationen sowie
zu Ungeduld und Zeitdruck. Zudem entwickelt sich eine neue Faszination
für das Berechnen und Evaluieren aller Vorgänge. Probleme werden nicht
mehr philosophisch reflektiert oder alltagstauglich gelöst, aber
statistisch sauber kategorisiert und abgeheftet.
Im nächsten Schritt erfolgt schließlich die "Entgrenzung von allem
Eigentümlichen und Identischen", ein neuer allgemeinverträglicher
Standard wird kreiert. An die Stelle authentischer emotionaler Bindungen
tritt die zunehmende Abhängigkeit von neuen Kontaktmedien, die eine
quasi lückenlose jederzeitige Verbundenheit vortäuschen. Wir leben mit
inszenierten und entgrenzten Wirklichkeiten, die Unterschiede zwischen
tatsächlicher und digitaler
Realität verwischen sich und werden auch gar nicht mehr als
wesentlich eingestuft. Es gibt mehr und attraktivere Möglichkeiten zur
Realitätsflucht, die zunehmend als positiv bzw. als ganz normal
empfunden werden. Die Fähigkeit zur Realitätsprüfung durch kritische
Differenzierung geht sukzessive verloren und wird oft sogar absichtlich
aufgegeben. Offensichtlich unterzieht sich der moderne Mensch einer
freiwilligen Gehirnwäsche durch die elektronischen Medien, indem er die
virtuelle Verfügbarkeit und Verfügungsgewalt als neue Freiheit
definiert. Vielleicht sind wir ja nur noch alle Teilnehmer an einen
riesengroßen Simulationsprozess, in dem neue Technologien durchgetestet
werden.
Für immer mehr Menschen scheint die Fähigkeit, Wirklichkeit zu
gestalten, immer mehr verloren zu gehen und überhaupt immer unwichtiger
zu werden. Konnte man früher noch eine klare Grenze zwischen den
Fantasiewelten der Märchen und Mythen zur Wirklichkeit erkennen und
bewusst wahrnehmen, so verwischt sich der Übergang vor realer und
virtueller Lebenswelt zusehends. Diesem Leben in virtuellen Realitäten
wohnt ein erhöhtes Suchtpotenzial inne. Das Streben nach Entgrenzung
meint womöglich auch die Sehnsucht nach Autonomie und kombiniert sich
mit Rücksichtslosigkeit in dem Sinne, als keine Rück-Sicht akzeptiert
wird, alles Gewesene soll nicht mehr gelten. Im Übrigen ist dieser
Menschentypus auch häufig dem Narzissmus verfallen.
In dem vorliegenden Buch geht es Funk um den entgrenzten Menschen in
psychologischer Perspektive, daher werden hier die Möglichkeiten der
Entgrenzung der eigenen Persönlichkeit und des Miteinanders erläutert.
Im Grunde simulieren wir hin und wieder erwünschte
Persönlichkeitsparadigmen, um eigenen oder etwa auch beruflichen
Idealvorgaben zu entsprechen. Der Mensch ist offensichtlich "ein
Bezogenheitswesen, das auf eine Bindung an die menschliche und
natürliche Umwelt immer angewiesen ist." Und das würde laut Funk
sowohl für den nach persönlicher Autonomie strebenden als auch für den
unter Autismus leidenden Menschen gelten. Hier spricht er von einer "autonomen
Bindungsfähigkeit", wobei der Mensch nach "Eigenständigkeit
innerhalb einer verlässlichen Bindung" strebt. Es geht um die
Balance von Nähe und Distanz, wobei Funk zu einer seiner zentralen
Erkenntnisse gelangt: "Die Freiheit des entgrenzten Menschen besteht
darin, dass er unverbindlich mit anderen verbunden sein möchte."
Der entgrenzungswillige Mensch tut sich schwer mit Werten wie
Zuverlässigkeit oder Einfühlungsvermögen. Oft entwickelt sich eine von
Funk sogenannte "entbundene Beziehungskonstruktion", in der man
sich jeweilige Entgrenzungen zugesteht oder eben auch erwartet. Für den
entgrenzten Menschen gibt es nichts, das selbstverständlich wäre oder
unumstößlich. Grundsätzlich geht es um die Deutungshoheit darüber, wer
man ist oder wie man von Anderen eingeschätzt wird. Wie sehr
Einschätzungen differieren oder falsch bzw. erzwungen sein können, zeigt
uns Andersens Märchen "Des
Kaisers
neue Kleider", auf welches Funk interessanterweise auch verweist.
Als letztendliche Frage bleibt bestehen, wie sehr man bei seiner
Persönlichkeitskonstruktion auf die Vorgänge in der Umwelt angewiesen
ist. Eine weitere Fragestellung, die sich leicht ins Absurde steigern
ließe, wäre, ob wir nicht alle nur mehr eigentlich virtuelle Personen
sind, die wir einander begegnen und uns voreinander inszenieren.
Entgrenzen wir uns nicht täglich von unserem eigentlichen
Persönlichkeitskern, damit wir gesellschaftsverträglich agieren können?!
Wir verdrängen und verleugnen uns bis zur Unkenntlichkeit - im Endeffekt
existieren wir nur noch als Identitätszombies. Dazu bemerkt allerdings
Funk: "Kein Mensch kann auf das Erleben seines Eigenseins
verzichten, auch der virtuell entgrenzte Mensch nicht." Erich
Fromm nannte das ein "existentielles Bedürfnis nach einem
Identitätserlebnis."
Das Problem ist die gesteigerte Abhängigkeit von virtuellen Realitäten,
die immer effizienter und animierender sein sollen. Funk sieht die
Inszenierung der eigenen Persönlichkeit als eine Art Doping und
spricht gar von einer "Abhängigkeitserkrankung". Freilich gälte
es hierbei deutlicher zu differenzieren zwischen einer "Inszenierung"
zum Zwecke einer gesellschaftlichen Anpassung oder der Erfüllung eines
eigenen Bedürfnisses nach autonomer Selbstdefinition, um sich kreativ
selbst zu entwerfen. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, äußere und
innere Grenzen anzuerkennen, müssen jeweils neu ausgelotet werden. Funk
unterstellt dem entgrenzungswilligen Subjekt, dass ihm die
Differenzierungsbereitschaft und die Ambivalenzfähigkeit abhanden
kommen. Freilich müsste hier genauer diskutiert werden, ob ein
Entgrenzungsbestreben nur in quasi materialistischer Hinsicht einer
Frustrationsvermeidung dient, also einen Eskapismus darstellt - oder ob
der Entgrenzungswille auf die stete Weiterentfaltung der Persönlichkeit
quasi in idealistischer Hinsicht ausgerichtet ist.
Die Feststellung, dass es kein Leben ohne Grenzen gibt, ist eine
Binsenweisheit. Allerdings ist Leben
auch permanenten Grenzveränderungen unterworfen. Menschliche Existenz
bedeutet ein unaufhörliches Transzendieren von Grenzen. Die spannende
Frage wird bleiben, wie eine "kreative Überschreitung der
Begrenztheit des Menschen konkret aussieht" und sich dabei die
individuellen und gesellschaftlichen Interessen nicht gegenseitig
behindern. Grenzüberschreitungen sind immer mit Dynamik, Erwartung und
Verlust verbunden. Ehrlicherweise müssen wir Menschen einräumen, dass
ein körperlicher Kräfteverlust im Laufe des Lebens nur durch psychische
Kreativität ausgeglichen werden kann, ja ausgeglichen werden muss mit
kulturellen, intellektuellen und auch spirituellen Aktivitäten. Im
Grunde ist alles, was wir tun, Kompensation, um dem Wahnsinn beim
Bewusstwerden der eigenen Begrenztheit wenigstens zeitweise zu entgehen.
Eigentlich leben wir in einer Perversion: Wir wissen um unsere
Vergänglichkeit und versuchen uns immer wieder einzuhämmern, von welcher
Wichtigkeit dieses Leben ist. Da bleibt nur eine über die warnenden
Ansätze Funks hinausgehende Erkenntnis: Wir können gar nicht anders, als
Grenzen zu überschreiten, denn der Geist befindet sich im steten Kampf
mit dem Körper bzw. der Materie. Mit den psychologischen Ansätzen Funks
ist diese unsere Lebensproblematik nicht zu erklären, hier bedarf es der
Grenzüberschreitung zur Philosophie, vielleicht sogar zur Spiritualität.
(KS; 02/2011)
Rainer Funk: "Der entgrenzte Mensch.
Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht"
Gütersloher Verlagshaus, 2011. 240 Seiten.
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Rainer Funk, geboren 1943, Psychoanalytiker in eigener Praxis in Tübingen, promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms, war dessen letzter Assistent und ist sein literarischer Rechte- und Nachlassverwalter. Neben der Herausgabe der Schriften Fromms (u.A. die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden) und zahlreicher Arbeiten über Fromm publiziert Funk vor Allem zu psychoanalytischen und sozialpsychologischen Fragestellungen der Gegenwart.