Felicitas Mayall: "Nachtgefieder"
Laura Gottbergs siebter
Fall
Felicitas Mayalls Protagonisten haben sich vor längerer Zeit im ersten
Band der Reihe bei einer grenzüberschreitenden Ermittlung kennen und
lieben gelernt. Jeweils seit einiger Zeit von ihren Ehepartnern getrennt
bzw. geschieden, haben sie sich auf eine Fernbeziehung eingelassen, die
sich nicht ganz einfach gestaltet. Im vorigen Band "Die
Stunde
der Zikaden" war es ihnen zwar vergönnt, zwei Wochen Urlaub
miteinander zu machen, doch selbst währenddessen mussten sie einen "Fall
lösen".
Immer wenn die beiden länger zusammen sind, reifen Träume von einem
dauerhaften Zusammenleben, doch dann kommt die Realität der jeweiligen
Lebenswelten in Siena und München wieder dazwischen. Für Angelo Guerrini
ist es in "Nachtgefieder" seine Exfrau Carlotta, die ihn bedrängt und
wieder mit ihm anbandeln will, und für Laura Gottberg die Ankündigung
ihrer Tochter, für eine Weile zu ihrem Vater zu ziehen.
Die Väter von Angelo Guerrini und Laura Gottberg spielen auch im
gegenständlich besprochenen Band wieder eine wichtige Rolle als
Ratgeber, Zuhörer und Ideengeber im privaten sowie im beruflichen
Bereich. Denn auch der siebte Fall, in dem "Laura Gottberg ermittelt",
wächst sich zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Laura
und Angelo aus, obwohl es zunächst, wie so oft, gar nicht danach
aussieht.
Als eines Tages eine
sehr elegant gekleidete Frau im Münchner Polizeipräsidium
auftaucht, die aus Italien stammt und sich nur auf Italienisch
ausreichend ausdrücken kann, wird sie von den Kollegen zu Laura Gottberg
geschickt, die gerade ihren Dienst begonnen hat und eigentlich in Ruhe
Akten aufarbeiten will.
Signora Donatella Cipriani hat ein delikates Problem: Sie ist mit dem
mächtigen Mailänder Industriellen Ricardo verheiratet, der für die Lega
Nord für das römische Parlament kandidiert und sich darüberhinaus auch
für höhere Aufgaben geeignet wähnt. Er hat sie vor Jahren aus ihren
Schulden geholt und ihr kleines Möbelkunstatelier gerettet. Dafür
erwartet er von ihr, dass sie ihn durch entsprechende Repräsentation bei
seinen politischen Ambitionen unterstützt. Sonst ist sie ihm recht egal.
Kein Wunder also, dass die attraktive Donatella dem Werben eines
englischen Mannes von Adel nachgibt und eine Beziehung mit ihm beginnt.
Doch bald schon wird sie mit intimen Fotos erpresst. Nachdem sie schon
mehrfach gezahlt hat, wollten die beiden sich trennen, doch nun ist ihr
Liebhaber verschwunden. Donatella öffnet sich im Gespräch mit Laura
Gottberg, die sich nur widerwillig auf den Fall einlässt. Irgendein
Bauchgefühl sagt ihr von Anfang an, dass hier irgendetwas nicht stimmt.
Dann wird in einem Münchner Luxushotel die Leiche eines Mannes gefunden.
Es ist Sir Benjamin, den Donatella als vermisst gemeldet hatte. In
seinen Unterlagen finden sich mehrere Identitäten, darunter der Hinweis
auf eine Ehefrau in Hamburg.
Ungefähr zur selben Zeit wird auf einem freien Feld bei Siena von dem
Bauern Bellagamba die Leiche eines Mannes gefunden und Angelo Guerrini
mit den Ermittlungen beauftragt. Und nun beginnt, wie in vielen Büchern
vorher schon, Felicitas Mayall in einem permanenten Wechsel der
Schauplätze eine Spannung aufzubauen, die den Leser das Buch nun nicht
mehr aus den Händen legen lässt. Denn so langsam wird deutlich, dass
nicht nur Donatella ihren Sir Benjamin in Siena kennengelernt hat,
sondern dass es dort ein exklusives Wellness-Institut gibt,
welches offenbar eine wichtige Rolle in der ganzen Sache spielt.
Mayall wechselt nicht nur zwischen Siena und München
hin und her in einer sich immer weiter zuspitzenden und mit nicht
wenigen Überraschungen aufwartenden Handlung, sondern sie verbindet auch
geschickt die berufliche Zusammenarbeit und die private Beziehung
zwischen Laura und Angelo. Während sie bei der Lösung des Falles wieder
gut zusammenarbeiten, gibt es in ihrer Beziehung erneut Spannungen,
nachdem sie sich in ihrem Urlaub so nahe gekommen waren. Das liegt nicht
nur an Angelos ehemaliger Frau Carlotta, sondern auch an antiken
Liebesgedichten, die Angelo einst Laura geschenkt hatte und denen sie
nun bei ihren Ermittlungen in Donatellas Unterlagen wieder begegnet.
Fazit:
Ein spannender Kriminalroman mit vielen Seitenhieben auf die
italienischen Verhältnisse der Gegenwart und einer harten
Bewährungsprobe für die Beziehung eines sympathischen Ermittlerpaares,
von dem man in der Zukunft sicher noch einiges lesen wird.
(Winfried Stanzick; 08/2011)
Felicitas
Mayall: "Nachtgefieder"
Gebundene Ausgabe:
Kindler, 2011. 412 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
Rowohlt, 2011.
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Leseprobe:
Obwohl es längst dunkel war, trippelten noch immer Tauben zwischen den
Buden des Weihnachtsmarkts herum, der bis in die Fußgängerzone Richtung
Karlsplatz hineinwucherte. Donatella Cipriani verabscheute diese Vögel,
überall schienen sie zu sein, bevölkerten auch römische und Mailänder
Winter- und Sommernächte, die Plätze von London, Paris, verpesteten den
Markusplatz von Venedig
und den Campo von Siena. Die Tauben passten sich den Menschen an,
verloren ihre natürlichen Instinkte. Sie machten die Nacht zum Tag,
schliefen dafür am Morgen länger, litten vermutlich unter Schlafmangel
und wurden anfällig für Infektionskrankheiten - wie die Menschen. Sie
vögelten sogar nachts, im Schein von Neonlampen. Auch das hatte
Donatella Cipriani beobachtet, und es war ihr wie eine Perversion
erschienen, ähnlich dem Nachtleben vieler Menschen. Wie ihr eigenes.
Sie ging sehr langsam, blieb immer wieder vor den großen Auslagen der
Geschäfte stehen, die erst vor einer halben Stunde die Türen geschlossen
hatten. Trotzdem waren kaum noch Menschen unterwegs, als hätte jemand
sie weggezaubert. Nur die Tauben waren noch da. Mit aller Kraft
konzentrierte sich Donatella Cipriani auf die Waren in den
Schaufenstern, sah trotzdem durch sie hindurch auf etwas anderes, das
hinter all diesen Lichtern und Weihnachtsdekorationen lag. Obwohl Nacht
war, trug sie eine leicht getönte große Sonnenbrille. Ein breiter
Seidenschal bedeckte ihr Haar,
verhüllte auch ihren Mund.
Sie war sich nicht sicher, ob ihr Entschluss richtig war, und sie hatte
Angst. Zweimal ging sie an der Abzweigung zum Polizeipräsidium vorbei.
Beim ersten Mal lief sie weiter bis zum Karlstor, kehrte verwirrt um,
studierte ein Filmplakat und wusste schon ein paar Minuten später nicht
mehr, welchen Film es dargestellt hatte.
Unruhig kehrte sie zum Marienplatz zurück, fühlte sich vom Geklapper
ihrer eigenen Absätze verfolgt und bemerkte, dass immer mehr Tauben wie
Lappen von den Dächern fielen, dunkle, gurrende Tauben,
denen die milden Winter und künstlich erhellten Nächte ein ewiger
Frühling waren. Ohne nachzudenken, trat sie nach einem dickkehligen,
buckelnden Täuberich, verfehlte ihn knapp. Er flatterte ein paar Meter,
trippelte dann balzend weiter, als wäre nichts geschehen.
Sie rannte hinter ihm her, jagte ihn erneut hoch, blieb keuchend stehen
und sah ihm nach, wie er sich auf einen Sims der Michaelskirche
flüchtete und von dort auf sie herabstarrte. Der Sims war zu schmal für
ihn, deshalb klebte er regelrecht an der Wand. Panisch, mit abgeknicktem
Flügel, ab und zu flatternd das Gleichgewicht haltend. Seine Augen
schienen rot zu glühen, doch das war vermutlich nur der Widerschein
einer Leuchtreklame.
Ihr war heiß, und sie hätte gern einen Stein nach ihm geworfen, doch
mitten in der Fußgängerzone gab es keine Steine.
"Was ham S’ denn gegen die arme Taub’n?", fragte ein Mann, der Donatella
bei ihrer Attacke zugesehen hatte.
Sie verstand ihn nicht, beachtete ihn nicht, ging schnell weiter. Es war
dumm von ihr gewesen, nach der Taube zu treten und ihr nachzulaufen. Sie
durfte nicht auffallen. (...)