Richard Mason: "Suzie Wong"
Die
politischen Veränderungen auf dem chinesischen Festland
treiben viele Menschen über die Grenzen; unter Anderem auch
nach Hongkong, wo der junge Maler Robert Lomax nach einigen Erfahrungen
in Burma und anderen asiatischen Ländern schließlich
gelandet ist, um dort nicht mehr als Immobilienmakler, sondern wirklich
als Maler und Zeichner seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Desillusioniert und genervt von der britischen Expat-Gesellschaft
wendet er sich der chinesischen Kultur zu und zieht in das "Nam Kok",
ein Stundenhotel im Hongkonger Hafengebiet, in dem er zu einem
vertretbaren Preis ein Eckzimmer mit viel Tageslicht mieten kann. Bei
einer Diät von Bratreisgerichten, die ihm den Beinamen
Chow-Fan einbringen, und viel Tee kann er relativ gut leben und malt
und zeichnet, während er sich mit den Bardamen anfreundet,
ohne allerdings ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. So entsteht ein
gewisser gegenseitiger Respekt.
Nach einigen Monaten kommt ein Mädchen ins Haus, das er zuvor
unter dem Namen Wong Mee-Ling kennengelernt hat und das meinte: "Ja,
Jungfrau - so was bin ich." Tatsächlich scheint das
Mädchen aber schon seit geraumer Zeit gerade dies nicht mehr
zu sein. Außerdem hat es einen kleinen Sohn, der von einer
Amme betreut wird, während Wong Mee-Ling im "Nam Kok" mit den
Matrosen flirtet und so ihr Geld verdient. Schnell
hängt sie sich an den mit wachsender Intensität in
sie verliebten Robert, ohne dass es zu einer sexuellen Begegnung der
beiden kommt. Dafür entwickelt sich zwischen dem
analfabetischen aber lebensklugen Mädchen und dem gebildeten,
weitgereisten Mann, der mit seinesgleichen so wenig anfangen kann, eine
komplexe und tiefgehende Freundschaft, die immer wieder durch die
Umstände und durch sie selbst auf die Probe gestellt wird.
Sehr eindringlich beschreibt Richard Mason in diesem Roman das Leben in
Hongkong in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre und stellt
dabei verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen vor sowie einen Teil
ihrer Wechselwirkungen. Das ist interessant, bildet aber in erster
Linie die Kulisse für eine Liebesgeschichte voller tiefer,
komplexer und widersprüchlicher Gefühle.
Mit dem Auge eines Künstlers beschreibt der
Ich-Erzähler Robert Lomax eine exotische Welt,
während er gleichzeitig psychologisch tiefgründige
Überlegungen über das Gesehene anstellt, ohne dabei
besonders sentimental zu wirken. So wird das Leben der "Huren mit Herz"
im "Nam Kok" auch überhaupt nicht idealisiert oder
schöngeredet, dies gilt ebenso für die
Persönlichkeiten dieser Damen.
Und auch hinsichtlich seiner eigenen Gefühle und Motive erlegt
sich der charakterlich eigentlich durchaus gefestigte Erzähler
keinerlei Schonung auf. Infolgedessen bekommt dieses Buch voller Witz
sowie großer und kleiner Tragödien einen Anstrich
der Authentizität und Ernsthaftigkeit, der es zu einem
Lektüreerlebnis macht, das man sicherlich mehrfach in seinem
Leben wiederholen möchte.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2011)
Richard
Mason: "Suzie Wong"
(Originaltitel "The World of Suzie Wong")
Übersetzt von Edmund Th. Kauer.
Unionsverlag, 2011. 443 Seiten.
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Richard
Mason (1919-1997) arbeitete bei einem Film-Magazin und später
beim British Council. Im Zweiten Weltkrieg wurde er
in Birma und Malaya eingesetzt. 1957 entstand "Suzie Wong".
Ein Buchtipp:
Françoise Hauser (Hrsg.): "Reise nach Hongkong.
Kulturkompass fürs Handgepäck"
Wer genau hinschaut, findet hier endlos weite Landschaften und
verlassene Dörfer, keine fünfzehn Taximinuten von
Kowloon entfernt. In diesem Band geht es um die unbekannten Seiten der
Stadt: um den Alltag jener, welche die Wirtschaftsblüte nicht
reich gemacht hat, um den Einfluss der Triaden, aber auch um
Zweitfrauen, die sich Tausende von Hongkongern jenseits der
chinesischen Grenze halten. Kurz: um eine hypermoderne Metropole, wo
die Wolkenkratzer allesamt nach den archaischen Regeln der Geomantik
ausgerichtet sind.
Harald Maass findet in Chungking Mansions keinen Schlaf -
Françoise Hauser ergattert einen Aussichtsplatz in der
Straßenbahn - Kai Strittmatter erliegt den Genüssen
des Dimsum - Ralph Umard staunt, wie Kung-Fu-Ikone Bruce Lee
über die Leinwand wirbelt -
Adeline
Yen
Mah geht guten und bösen
Fengshui-Strömungen
nach - Gerhard Dambmann besucht
religiöse Festlichkeiten - Jan Morris taucht in das
präkoloniale Hongkong ein - Karl-Heinz Ludwig beobachtet, wie
der Union Jack gehisst wird - Friedrich
Gerstäcker sieht Hongkong von Piraten umstellt - Hans W.
Vahlefeld zieht nach der Kulturrevolution Bilanz - Virginia Ng Suk Yin
schaut Mahjong-Spielern über die Schulter - Leung Ping-kwan
schwelgt in Kindheitserinnerungen - Tiziano
Terzani kann sich nur schwer mit der Rückgabe an
China abfinden - Helmut Martin beleuchtet die verschlungenen Wege der Tycoons
- Hansjörg Gadient befragt Umweltschützer zum Bauwahn
- Christoph Hein berichtet von den Verschlägen der
Käfigmenschen - Gerald L. Posner wagt sich in Hongkongs
Unterwelt - Pamela Druckerman besucht chinesische Zweitfrauen hinter
der Grenze - Dies und vieles mehr über Hongkong. (Unionsverlag)
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