Orlando Figes: "Krimkrieg"
Der letzte Kreuzzug
Der
Krimkrieg: Was für ein Wahnsinn!
Orlando Figes, Professor für neuere und neueste russische
Geschichte am Birkbeck College der University of London,
ist ausgewiesener Kenner der russischen Geschichte. Sein anno 1997
erschienenes Buch "Die Tragödie eines Volkes" handelt von der
Oktoberrevolution 1917 und brachte ihm einige Preise ein. Als
Engländer hat er einen gesonderten Zugang zu den Materialien
einer weiteren Kriegsnation dieses so überflüssigen
Konfliktes, der nach 700.000 Toten gewissermaßen mit dem
status quo ante zu Ende ging. An dieser Stelle sei auf wohlfeile
Sentenzen zu Sinn und vor allem Unsinn bewaffneter Auseinandersetzung
verzichtet und stattdessen ein Blick auf die komplexe Vorgeschichte des
Krimkriegs geworfen.
Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten England, Österreich,
Russland und das Osmanische Reich die Geschicke Europas und des
Vorderen Orients. Frankreich schmollte noch ein wenig, nachdem man es
1815 auf dem Wiener
Kongress wieder auf Normalmaß
zurechtgestutzt hatte.
In Jerusalem, dem religiösen Zentrum par excellence, stritten
sich in erster Linie Katholiken und die Fraktionen der Orthodoxie
untereinander, aber auch mit den Juden und Moslems. Es ging um das
Vorrecht bei den Heiligtümern, was
regelmäßig in wüsten Keilereien endete, bei
denen es öfter auch Tote gab. Das zaristische Moskau
wähnte sich als drittes Rom, also Ort und Hort der
Rechtgläubigkeit, nachdem die Osmanen das zweite Rom, also
Byzanz, seit 400 Jahren in Besitz hatten. Man wähnte
russischerseits sich dazu berufen, Konstantinopel aus den
Händen der Muselmanen zu befreien und wieder als Zentrum des
orthodoxen Christentums einzurichten, unter der Suprematie des
russisch-orthodoxen Klerus natürlich. Doch nicht nur die
Religion diente als Brandherd, sondern auch geostrategische
Erwägungen. Zwischen 1686 und 1878 fanden allein zwischen
Russland und dem osmanischen Reich insgesamt neun Kriege statt. Zwei
Regionen waren für beide Mächte hierbei von
besonderem Interesse: das Donaudelta und die Nordküste des
Schwarzen Meeres, die als Pufferzonen dienten. Die
Warmwasserhäfen des Schwarzen Meeres waren aber auch
für die Handels- und Seemacht Russland von großer
geostrategischer Bedeutung, denn die Ostsee bot keinen sicheren Zugang
zu den Weltmeeren. Doch mit dem Schwarzen Meer alleine war es noch
nicht getan, denn der Bosporus und somit Konstantinopel schlossen das
Schwarze Meer wie ein Ventil ab.
Mitte des 19. Jahrhunderts ging man in Europa und in Russland davon
aus, dass der "Kranke Mann am Bosporus" vor dem Zusammenbruch
stünde. Korruption und religiös begründete
Hybris sowie der fehlende gesellschaftliche Innovationsdruck
lähmten das osmanische Reich, das auch militärisch
rückständig war.
1825 übernahm Nikolaus I. die zaristischen
Amtsgeschäfte. Durch und durch Soldat, wollte er
Konstantinopel und Jerusalem befreien und zu Zentren der Orthodoxie
machen. Im Krieg 1828 bis 1829 befreiten die Russen die Moldau und die
Walachei und stellten sie unter ihren Schutz, Griechenland wurde
unabhängig, unterlag aber russischem Einfluss. Das unterlegene
osmanische Reich öffnete vertraglich gesichert den Bosporus
für russische Handelsschiffe. Einen vernichtenden Schlag gegen
die Osmanen unterließen die Russen, weil sie damit rechneten,
hierbei den Rest Europas auf den Plan zu rufen, der sich wiederum
gezwungen gesehen haben könnte, den Russen Einhalt zu
gebieten. Doch das europäische Misstrauen gegenüber
Russland war dennoch geweckt. Die Londoner Konferenz von 1832
begründete den modernen griechischen Staat mit Otto von Bayern
als den Briten genehmem König. Dass Russland nicht an einem
besiegten, sondern einem schwachen Osmanischen Reich gelegen war, kann
man übrigens daran ersehen, dass die Russen den Osmanen 1833
gegen die Ägypter zu Hilfe kamen. Diese Aktion rief sofort die
Briten und Franzosen auf den Plan, die Kriegsschiffe zu den Dardanellen
entsandten.
Kriege Russlands mit dem Osmanischen Reich werden vom Autor pauschal,
vielleicht etwas zu pauschal und vordergründig als
Religionskriege eingeordnet. Dass die muslimischen Bergstämme
des Kaukasus sich weigerten, außer dem osmanischen Sultan,
dem obersten Kalifen des islamischen Rechts, irgendeine andere
Autorität anzuerkennen, kann dem zaristischen Russland nicht
gefallen haben. Die Versuche der Christianisierung des Kaukasus waren
die Konsequenz. Gleiches galt im Prinzip für die Tataren der
Krim, wo die Christianisierung im Gegensatz zum Kaukasus weitgehend
funktionierte. Eine besondere Rolle spielte die Hagia Sophia, denn sie
war nach russischer Vorstellung gewissermaßen der
Kondensationskern des orthodoxen Christentums, der russischen
Staatsreligion.
Die Briten ihrerseits fürchteten aufgrund des russischen
Expansionsdranges, die Russen könnten sich auch Indiens
annehmen. 1844 besuchte Zar Nikolaus unangekündigt England und
versuchte das Fell des Bären zu verteilen. Er
missinterpretierte die englischen Gespräche als Zustimmung zu
seinen Plänen, während in England eine Russophobie um
sich griff, die, so der Autor, die westeuropäische Sichtweise
auf Russland bis in die Zeiten des Kalten Krieges hinein bestimmte. Der
russische Umgang mit dem leidgeprüften Polen
bestärkte die Ängste der Briten vor der
außenpolitischen Ambitionen Russlands. Selbst Teile der
britischen Bevölkerung setzten sich für den tapferen
Freiheitskampf der Polen gegen ihre östlichen Aggressoren ein.
Jedenfalls sorgten die Exilpolen im Westen, darunter Adam Jerzy
Czartoryski, Adam Mickiewicz und Frédéric
Chopin,
dafür, dass sich die Stimmung gegenüber Russland
zusehends verschlechterte.
Der erzkatholische Botschafter Frankreichs am osmanischen Hof La
Valette betrieb im November 1852 Kanonenbootpolitik und beanspruchte
einen Schlüssel zur Geburtskirche in Bethlehem, was die
Türken letztlich bewilligten. Das erzürnte den Zaren,
der mit einer Teilmobilisierung reagierte und die europäischen
Teile des osmanischen Reiches schon einmal neu aufteilte. Seine
Sondierungsgespräche mit dem englischen Botschafter, die in
erster Linie ein anglofranzösisches Bündnis
verhindern sollten, verliefen aber nicht wie erhofft. Im Februar 1853
entsandte der Zar den militanten Betonkopf Fürst Alexander
Menschikow als Sonderbotschafter nach Konstantinopel, um den status quo
ante wiederherzustellen. Doch dieser führte sich so arrogant
auf, dass die Türken mit den westlichen Nationen Kontakt
aufnahmen und Widerstand zeigten. Menschikow reiste ab. Im Juni
besetzten russische Truppen die Donauherzogtümer Moldau und
Walachei. England, Frankreich und Österreich begannen
ihrerseits mit Teilmobilmachungen. Am 4. Oktober 1853 erklärte
die türkische Regierung Russland den Krieg, am 23. Oktober
marschierten türkische Truppen in die besetzten Gebiete ein
und lieferten sich erste Gefechte mit den russischen Truppen. Als ein
türkisches kleines Flottenkontingent in der Seeschlacht bei
Sinope vollständig vernichtet wurde und die Russen sogar
Sinope selbst unter Beschuss nahmen, änderte sich die
öffentliche Meinung in England und Frankreich zugunsten einer
Teilnahme am Krieg auf Seiten des osmanischen
Reiches.
Das ist im Wesentlichen die Vorgeschichte dieses Krieges. Der Autor
breitet nun nach dieser gründlichen Vorbereitung das
Kriegsgeschehen in extenso aus. Er hat eine Menge diplomatischer,
ministerialer und soldatischer Korrespondenz Russlands untersucht und
zitiert, wo es angebracht ist, fleißig daraus. Etwas
gewöhnungsbedürftig ist es, orthografische und
stilistische Mängel der Briefe einfacher Soldaten ins Deutsche
übertragen vorzufinden. Das ist eine der Stellen, wo eine
gewisse Journalistik Einzug hält, die dem übrigen
Niveau der Publikation nicht gerecht wird.
Der wohl berühmteste Briefeschreiber dürfte Tolstoi
gewesen sein, der die Belagerung des heute bulgarischen Silistras
mitgemacht hatte. Trotz allen vordergründigen nationalen
Pathos und aller russischen Volksseele als basso continuo in seinen
Schriften dürfte Tolstoi
in diesem Krieg ein
gerüttelt Maß an Humanismus und an unterschwelligem
Pazifismus erworben haben, das insbesondere das Spätwerke
durchsetzte.
Im Vordergrund steht ganz klar die ereignisgeschichtliche Komponente
des Krimkrieges. Teils lässt sich tagesgenau die Gesamtmasse
der verschossenen Kanonenkugeln nachrechnen, was den eher an
politischen Zusammenhängen interessierten Leser wohl weniger
anspricht. Doch andererseits verliert der Krieg dadurch seine abstrakte
Sterilität. Alles in allem handelt es sich um ein
Stück atmosphärisch dichter Geschichtsschreibung, die
bei dem Thema Krimkrieg auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ohnehin
konkurrenzlos ist. Auch wenn das Thema Mittel- und Westeuropa nicht im
Kern betrifft, so erhellt dieses Werk die Zusammenhänge vor
und vor allem nach diesem Krieg schon enorm. Bemerkenswert ist in
diesem Zusammenhang auch der große Fokus, den der Autor auf
die Nachwirkungen dieses osteuropäisch-vorderasiatischen
Konfliktes legt. Es fiel im Übrigen auf, dass sich die
Übersetzer nicht an die Transliteration der Deutschen
Morgenländischen Gesellschaft hielten. So wurde Muhammad 'Alī Bāšā
(im Deutschen üblicherweise Muhammad Ali Pascha) zu Mehmet
Ali, was eher der türkischen Schreibweise entspricht.
Doch insgesamt legt Orlando Figes ein beeindruckendes Geschichtswerk
vor, das auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eine wesentliche
Lücke schloss. Künftige Publikationen werden sich
daran zu messen haben. Anmerkungen, Auswahlbibliografie, Bildnachweis
und Register reihen das Buch auch formal in die Reihe hochklassiger
Geschichtspublikationen ein.
(Klaus Prinz; 11/2011)
Orlando
Figes: "Krimkrieg. Der letzte
Kreuzzug"
Übersetzt
von
Bernd Rullkötter.
Berlin Verlag, 2011. 747 Seiten.
Buch
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