Sayed Kashua: "Zweite Person Singular"
Mit
großem Geschick und
literarischem Können verwebt der israelische Autor Sayed
Kashua in seinem Roman
"Zweite Person Singular" die Geschichte zweier arabischer Israelis.
Beide haben die manchmal uneingestandene große Sehnsucht,
ihre arabische
Herkunft zu verleugnen und so zu werden wie die anderen, die
jüdischen
Israelis.
Schon in seinen beiden ersten Romanen, die vom großen
Publikum wenig beachtet
wurden, "Tanzende Araber" (2002) und "Da
ward
es Morgen" (2005), hat sich Sayed Kashua mit
großer Sensibilität
und zum Teil beißender Kritik mit dieser
Bevölkerungsgruppe beschäftigt, zu
der er selbst gehört. 1975 geboren, lebt er mit seiner Familie
im palästinensischen
Teil des Dorfes Beit Safafa bei Jerusalem.
Zwei Hauptpersonen werden in diesem Buch in wechselnden, sich im Lauf
des Romans
auf wundervoll komponierte Weise immer weiter aufeinander zu bewegenden
Erzählsträngen
beschrieben.
Das ist auf der einen Seite der namenlos bleibende Rechtsanwalt,
erfolgreich und
wohlhabend, der sich aber ununterbrochen damit quält, seiner
palästinensisch-bäuerlichen
Herkunft zu entfliehen. Ein schnelles Auto,
teure Kleidung und ein
aufwändiger
Lebensstil, bei dessen Pflege er und seine Frau in einer gnadenlosen
Konkurrenz
stehen mit anderen Ehepaaren, die ebenfalls danach streben, so zu sein
wie die jüdischen
Israelis und regelrecht nach gesellschaftlicher Anerkennung
süchtig sind,
sollen diese Herkunft vergessen lassen.
Aber immer wieder spürt der Rechtsanwalt, was ihm alles fehlt,
an Bildung und
kulturellem Hintergrund, und fast panisch versucht er dies mit
nächtlicher Lektüre
großer Klassiker, die ihm von irgendjemandem empfohlen
wurden, auszugleichen.
Doch er ist damit genauso wenig erfolgreich wie mit seinen
Anpassungsversuchen. Besonders
deutlich wird das später
im Buch, wenn er, nachdem er auf das vermeintliche Zeugnis einer
Affäre seiner
Frau gestoßen ist, die ganze Palette der arabisch
geprägten Männerkultur in
seinen Gefühlen durchläuft.
Dieses vermeintliche Zeugnis einer Affäre der Frau des
Rechtsanwalts hat mit
der Existenz der zweiten Hauptfigur des Romans zu tun; einem jungen
Mann namens
Amir. Auch er stammt aus einem palästinensischen Dorf. Als
sein Vater früh
gestorben ist, träumt er jahrelang davon, sich der Dominanz
seiner Mutter, mit
der er zusammenlebt, zu entziehen. Auch die Verachtung und die
Ausgrenzung, die
er als vaterloser Knabe im Dorf erfahren hat, treiben ihn fort. Endlich
flieht
er nach Jerusalem, wo er an der Universität Jura studiert,
sich aber weiterhin
mit einem einsamen Leben konfrontiert sieht.
Er lernt ein Mädchen kennen, das ihm, als er sich nicht bei
ihr meldet, einen
Zettel hinterlässt. Dieser Zettel wandert in ein Buch, Leo
Tolstois
"Kreutzersonate", das Amir in den Stunden der
nächtlichen Betreuung eines
jungen Mannes namens Jonathan aus dessen umfangreicher Bibliothek
liest. Seit
Amir der Pfleger dieses gelähmten jungen jüdischen
Israeli wird, ändert sich
sein Leben. Er wächst an dieser Aufgabe, und, zeitlich um
Jahre versetzt, blättert
Sayed Kashua auf, was die beiden Hauptpersonen miteinander zu tun
haben. Es klärt
sich auch auf, warum Jonathan gelähmt ist, es klärt
sich auf, wie das Buch von
Tolstoi in jenes Antiquariat gelangt ist, in dem der Rechtsanwalt in
seinem
verzweifelten Versuch, sich so etwas wie eine klassische Bildung
anzueignen,
regelmäßig einkauft.
Als der Rechtsanwalt in der "Kreutzersonate", die ihm wieder
irgendjemand
empfohlen hat, den ominösen Zettel findet, auf dem er sofort
die Handschrift
seiner Frau erkennt, brechen sich Gefühle Bahn, die er, der
doch Zeit seines
Lebens versucht hatte, sich aus der rückständigen Kultur zu
befreien, längst überwunden glaubte. Er ergeht sich
in Fantasien, wie er seine
Frau überführen und sie dann natürlich
sofort töten wird, weil sie seine
Ehre verletzt hat.
Und er wäre kein guter Rechtsanwalt, würde er nicht
schlussendlich hinter das
ganze Geheimnis der Entstehung und der langen Geschichte dieses Zettels
kommen
und auch ein Geheimnis, das Amir schon seit Jahren mit sich
herumträgt, enträtseln.
Kashua, der als eine der wichtigsten literarischen Stimmen in Israel
gilt, ist
Teil einer nicht zu unterschätzenden Zahl säkularer
Israelis, welche die
Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zwischen
Juden und Arabern
noch nicht
aufgeben haben. In seinem Buch erzählt er von zwei
völlig unterschiedlichen
Versuchen zweier arabischer Israelis, sich sowohl von ihrer als
rückständig empfundenen Kultur zu emanzipieren, als auch in der für
sie
nach wie fremden
Mehrheitskultur in Israel zurechtkommen.
Amir, dem das offenbar authentischer gelingt, erzählt seine
Geschichte in der
Ich-Form, während der vordergründig sehr
erfolgreiche, innerlich jedoch von
Minderwertigkeitskomplexen schier zerrissene Rechtsanwalt ohne Namen
bleibt.
Es ist ein spannender Roman, der einen vertieften Einblick in die
israelische
Gesellschaft der Gegenwart erlaubt, aber auch Themen streift, die wir
aus
unserer eigenen Gesellschaft gut kennen.
Das lange Warten auf diesen Roman Sayed Kashuas hat sich gelohnt und
man kann
ihm nur mehr Resonanz und Beachtung wünschen, als seine ersten
beiden Bücher
erfahren haben.
(Winfried Stanzick; 05/2011)
Sayed
Kashua: "Zweite Person Singular"
Aus dem
Hebräischen von Miriam Pressler.
Berlin Verlag, 2011. 395 Seiten.
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