Christoph Hein: "Weiskerns Nachlass"
Rüdiger
Stolzenburg heißt der Protagonist dieses Romans von Christoph
Hein. Er ist 59 Jahre alt und hat seit undenklichen Zeiten ein halbe
Planstelle als Dozent für Kulturwissenschaften in Leipzig
inne. Lange hegt er die Hoffnung, wenigstens als Akademischer Rat auf
eine ganze Stelle berufen zu werden, doch langsam muss er diese
Hoffnung begraben, denn das Kulturwissenschaftliche Institut ist von
massiven Mittelkürzungen betroffen. All die Jahre hat er sich
mit zusätzlichen freiberuflichen Aufträgen
über Wasser gehalten. Er hat Vorträge gehalten, viele
auch mehrmals, Artikel und Rezensionen verfasst, doch in den letzten
Jahren nehmen die Aufträge dramatisch ab. In den Zeitungen und
Radiostationen arbeiten jetzt jüngere Leute, die Stolzenburg
nicht mehr kennen und die auch keine Wertschätzung mehr
für seine gediegene und anspruchsvolle Art zu arbeiten haben.
Über eine lange Zeit war Rüdiger Stolzenburg stolz
darauf, dass er, anders als alle anderen Kollegen am Institut, jede
seiner Vorlesungen und Lehrveranstaltungen neu entwickelte und
vorbereitete und nie einen Text mehrmals in einer Vorlesung benutzte.
Lange wurde er deshalb von den Kollegen geschnitten, doch in der
letzten Zeit hat er sich dabei ertappt, dass er des Öfteren
zum Semesterbeginn zu einem alten Text greift und zu einem für
ihn schon abgelutschten Thema, weil er einfach keine Zeit, aber wohl
auch keine Energie mehr aufbringen konnte für etwas Neues.
Es ist auch seine Faszination für sein Lieblingsthema,
für das sich aber sonst niemand zu interessieren scheint, und
für das er auch keinerlei Fremdmittel auftreiben kann. Er
träumt von einer Ausgabe der Werke Friedrich Wilhelm
Weiskerns, eines 1711 in Eisleben geborenen und später in Wien
erfolgreichen Schauspieler und Autors, der vor allem aufgrund seiner
Stehgreifkomödien lange Jahre das Wiener Theaterpublikum
ergötzte, auch die Gunst von Kaiserin
Maria Theresia und Josef
II. erlangte und mit ihnen eine rege Korrespondenz führte.
"Er ist nicht Aufsehen erregend genug, mein Weiskern",
räsoniert Rüdiger Stolzenburg in einem seiner
zunehmenden Lebensmomente, in denen er alle gegen sich wähnt, "sie
wollen nur Leuchttürme fördern. Sie verteilen Geld,
wenn etwas angeblich nützlich ist oder wenn es sie
schmückt. Das nennt man Exzellenzforschung. Schlechte Zeiten
für meinen kleinen sächsischen Topgraphen in
Wien. Er
bringt nichts ein, er kostet nur. Und so etwas ist für das
Gremium Schmetterlingskunde, heraus geworfenes Geld. Wir sind nicht
vermarktbar, mein Weiskern und ich."
Den ganzen Roman hindurch geht es darum, dass Stolzenburg auf
vielfältige Weise versucht, seinem großen Ziel
näher zu kommen. Ein reicher Verleger, der über
Weiskern promovierte, verspricht ihm, ihn finanziell zu
unterstützen, in seinem berühmten Frankfurter Verlag
allerdings will er das Buch nicht sehen. Fast geht Stolzenburg einem
Betrüger auf den Leim, der ihm gefälschte Autografen
von Weiskern verkaufen will.
Zwischendrin hat er mit einer Steuerrückforderung des
Finanzamtes zu kämpfen, die ihn fast in den Ruin treibt, und
wird immer wieder von einer Bande vorpubertärer
Mädchen belästigt, bedrängt und auch
misshandelt, und versucht sich von seiner gegenwärtigen
Freundin, die sehr viel jünger ist als er, zu trennen. Erst
recht, als er eine Frau kennenlernt, die ihn wirklich anzieht. Doch sie
ist von seiner Unehrlichkeit sowie seiner Wankelmütigkeit
nicht begeistert und zieht sich zurück.
Dafür kommen im letzten Drittel zwei Studenten ins Spiel, die
Rüdiger Stolzenburg bestechen wollen. Ein attraktives
Mädchen will sich gegen Sex
mit ihm eine gute Note erschlafen,
und ein anderer Student, Sohn reicher Eltern, entpuppt sich nicht als
der faule Studiosus, für den ihn Stolzenburg
abschätzig gehalten hat, sondern als engagierter Nachfolger
des väterlichen Betriebs. Dafür braucht er aber das
großväterliche Erbe, das unter Anderem aus einer
ebenso großen wie unschätzbaren Autografensammlung
besteht (natürlich ist auch Weiskern dabei) und an das er nur
kommen kann, wenn er ein einen schöngeistigen
Universitätsabschluss vorlegt. Für diesen Abschluss
bietet er Stolzenburg die Summe von 25 000 Euro an. Das würde
für die mittlerweile auf die Hälfte herabgesetzte
Steuerschuld reichen und vielleicht auch für seinen
großen Buchtraum ...
Christoph Heins Hauptfigur ist nicht nur ein in den Augen seiner
Kollegen gescheiterter Wissenschaftler, er hat auch sein Leben
letztlich in den Sand gesetzt. Aus einer schnell geschiedenen Ehe hat
er eine Tochter, die außer Geld,
das er nicht hat, nichts
mehr von ihm will. Mit Frauen kann er nur oberflächliche und
kurze Beziehungen aushalten, er ist gern allein. Doch nun scheint sich
in mehrfacher Hinsicht vielleicht doch noch etwas in seinem Leben zu
ändern, oder doch nicht?
Christoph Hein hat viel in seinen Roman hineingepackt, vielleicht ist
es zuviel. Es ist die gut zu lesende Geschichte eines gescheiterten
Mannes und Wissenschaftlers, dessen Existenz, dessen Sein immer mehr
schrumpft. Es bleibt offen, was davon übrig bleiben wird.
(Winfried Stanzick; 09/2011)
Christoph
Hein: "Weiskerns Nachlass"
Suhrkamp, 2011. 319 Seiten.
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Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. 1967 studierte an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm mit seinem Prosadebüt "Einladung zum Lever Bourgeoise". 2008 wurde Hein mit dem "Walter-Hasenclever-Literaturpreis" der Stadt Aachen ausgezeichnet.