Nino Haratischwili: "Mein sanfter Zwilling"
Abbitte?
In der Literatur gibt es immer wieder Protagonisten, die man ungern
privat auf einen Kaffee treffen möchte. Dennoch ist ein
solcher Protagonist noch überhaupt kein Indiz dafür,
einen schwachen Roman vor sich zu haben. Glaubhaft psychotische,
hysterisch paranoide oder im Wahn sexbesessene literarische Akteure
können genauso wichtig für die Literatur sein, wie
der zerstoßene Kreuzkümmel in der indischen
Küche oder Hmeli Suneli und Suluguni in der georgischen
Küche.
Im Zentrum des zweiten Romans der deutsch-georgischen Schriftstellerin
Nino Haratischwili stehen ein Mann und eine Frau. Sie bereits
verheiratet, mit Sohn, er ein, man denke positiv, sich herumtreibender
Reporter. Stella geht es mit ihrer Familie vermeintlich gut. Dann
taucht plötzlich Ivo auf, und es gibt leider nichts mehr, was
Stella davon abhalten könnte, sich in Ivo zu verlieren. Und
auch Ivo bleibt der Linie des Romans treu, ohne Skrupel nimmt er
Stella. Das soll alles auf die große Leidenschaft
hinauszielen.
Narzisstisch und egoistisch soll ihre Handlungsweise womöglich
sein, natürlich durch das gemeinsame Erlebnis der Jugendjahre
heraufbeschworen. Allerdings scheint es im Verhalten der Protagonistin
sowieso einige wirklich äußerst fragwürdige
Problemstellen zu geben.
Der Vorgesetzte Stellas wird einfach versetzt und weiter fallen
gelassen, obwohl er sowieso bereits mehr Verständnis
für Stella aufbringt als der überdurchschnittlich
freundliche Vorgesetzte es je tun würde. Dass es Stella an
einem Mindestmaß an Verantwortungsbewusstsein fehlt, ist dem
Leser da aber längst mehr als klar.
"Ich erwachte aus meinem komatösen Zustand mit einem
dunkelblauen T-Shirt in der Hand und zog es mir über. Es
erinnerte mich an meinen Mann, an mein Kind, daran, dass ich im Hier
war, im Jetzt, und dass alles, woran sich mein Hirn gerade
festklammerte, vergangen war. Ich atmete tief durch und zwang mich zu
einem Lächeln, ich musste wieder Boden unter den
Füßen spüren."
Ein wenig später sitzt die Protagonistin mit der Bild ihres
Sohnes in der Hand da, heulend, das Bild quasi als letzter Anker, bevor
die ach so wilde Strömung sie ins Reich der so verbotenen
Leidenschaft mitreißt. Prophylaktisches Selbstmitleid bereits
hier, bevor es später im Raum dann immer schlimmer wird. Nach
dem Heulen meldet sich Ivo zu einem Besuch an, und schon, kaum ist er
etwas später eingetreten, wird das Leben der Stella ins
Lächerliche gezogen. Spießig sei es, mit kleinen
humoristischen Ausrutschern, zum Beispiel dem, dass inmitten der
übermäßigen Spießigkeit eine
unspießige Theke in der Wohnung vorhanden sein soll.
Natürlich läuft das alles darauf hinaus, dass Stellas
Mann ein absolut stinklangweiliger Spießer sein soll. Das
macht es der Protagonistin vermeintlich leichter, in ein
Verhältnis bzw. eigentlich nur einige, im Übrigen
ungemein unschöne, Sexszenen
mit Ivo zu flüchten. Stella scheint nicht in der Lage zu sein,
ein Verhältnis zu führen. Ebensowenig scheint sie in
der Lage zu sein, Mutter oder Ehefrau darzustellen.
"Zu dritt fuhren wir im Auto meines Mannes zum
Fußballplatz meines Sohnes. Von außen betrachtet
schien das Bild zu stimmen, mit einer kleinen Ausnahme: Der Mann
stimmte nicht ... Wie viel riskierte ich für eine vergangene,
niemals irgendein Glück verheißende Beziehung zu
einem Menschen, für die ich in den sechsunddreißig
Jahren, die ich auf der Welt war, keinen Namen gefunden hatte."
Langsam, Schritt für Schritt erweitert die Autorin den Blick
auf die Vergangenheit; man erfährt, dass Stellas Vater mit
Ivos Mutter ein Verhältnis hatte, Ivos Mutter durch Ivos Vater
getötet wurde, Ivos Vater deshalb ins Gefängnis
musste und dass Ivo daher bei Stellas Vater, denn auch Stellas Mutter
entpuppt sich als eklatante, aber liebenswürdige
Mutterversagerin, die in New York Karriere macht, die beiden Schwestern
bleiben dank eigener Entscheidung in Deutschland beim Vater, zusammen
mit Stella und ihrer Schwester aufwächst. Wer meint, das sei
alles ein wenig konstruiert, dem pflichtet der Rezensent bei,
allerdings hätte er damit auch keine Probleme, wenn er
zumindest auch nur ganz kurz an die Leidenschaft zwischen Stella und
Ivo glauben könnte. Das ist nämlich das
größte Manko dieses eigentlich recht schmissig
geschriebenen Romans, die fehlende Glaubwürdigkeit.
Stellas Verhalten wirkt schlichtweg infantil und wenig geistreich,
hysterisch labil und einfach gestört. Diese Störung
wirkt allerdings aufgesetzt. Das Verhalten ihres Mannes, der ihr Chance
um Chance einräumt, ihr die Möglichkeit einer
Entscheidung gibt, wird weiter in Richtung Spießertum
karikiert, damit das noch mehr Wirkung erreicht, werden die
natürlich noch spießigeren Schwiegereltern auch mit
ins Boot genommen. Soll das durch den Kakao Ziehen der Gattenfamilie
der Protagonistin etwa Wind und Rückendeckung des Lesers
erhaschen? Klischee folgt auf Klischee. Auch die Klischees
wären verdaulich, wenn man auch nur ansatzweise daran glauben
könnte, dass da zwischen Ivo und Stella wirklich diese
"besondere Bindung" bestehen würde. Eine Bindung, die durch
ein schweres Kindheitstrauma entstanden ist, die nur durch eine Art
Triebhaftigkeit gebändigt oder in Zaum gehalten werden kann ...
Im zweiten Teil spitzt sich alles in Georgien zu. Stella
verlässt Kind und Mann, versucht mit Ivo in Georgien ein neues
Leben zu beginnen. In diesem Teil kommen auch einige wirklich gute
Passagen dieses Romans, der voraussehbar katastrophal endet.
"Auf dem Boden sitzend, betrunken, erstickt in meinem Elend,
in Selbstmitleid ertrinkend, fragte ich mich, warum ich es nie
geschafft hatte, uns zu vergeben. Warum ich ihn nie um Verzeihung
gebeten hatte, warum ich in dieser verdammten, klebrigen Schuld
stecken
geblieben war ..."
Die Frage nach Schuld und Sühne ist natürlich ein
ewiges Thema, bekanntlich kann Nichterwähntes zu
Tragödien führen, wie auch absichtlich
Erwähntes ein Menschenleben kosten kann. Das soll, wenn im
Inneren herumgetragen, zu Tragödien führen. Das ist
allerdings ein Thema, welches in der Literatur bereits
unzählige interessantere und glaubhafte Lösungen
inspiriert hat. Da müssen gar nicht nur die russischen
Klassiker herhalten. Es ist relativ offensichtlich, was die Autorin mit
diesem Roman wollte. Leider geht die Rechnung in den Augen dieses
Rezensenten aber nicht auf. Zu dick, zu psychotisch, zu
übertrieben gewollt dramatisch wird hier mit dem Pinsel
aufgetragen, alles im Zeichen der vermeintlichen Leidenschaft, oder der
noch vermeintlicheren Liebe; dadurch liegt eine dicke Farbschicht
über den Worten, unter der dem Text der Autorin die Luft
ausgeht.
(Roland Freisitzer; 09/2011)
Nino
Haratischwili: "Mein sanfter
Zwilling"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2011. 379 Seiten.
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Nino
Haratischwili, geboren 1983
in
Tiflis, ist preisgekrönte Theaterautorin und
Theaterregisseurin . Im Jahr
2008 gewann sie für "Agonie" den "Rolf-Mares-Preis" in der
Kategorie "Außergewöhnliche Inszenierung". 2010
wurde ihr der "Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis"
verliehen. Ihr Romandebüt "Juja" erschien im Frühjahr
2010.
Buchtipps:
Marlies
Kriegenherdt: "Georgien"
Georgien, das Land im Kaukasus an der palmengesäumten,
subtropischen Ostküste des Schwarzen Meeres, möchte
an seine exzellenten touristischen Traditionen aus Sowjetzeiten
anknüpfen und ist gerade dabei, die touristische Infrastruktur
zeitgemäßen Anforderungen anzupassen.
Dieser Reiseführer führt in die historische
Hauptstadt Mzcheta mit zahlreichen Zeugnissen für die
zweitälteste christliche Kultur der Welt, in die Wiege des
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Wehrtürmen und dem höchsten Dorf Europas, zu den
Heilquellen der Zaren nach Bordshomi und auf Alexandre
Dumas' und
Alexander
Puschkins Spuren entlang der Georgischen Heerstraße
bis zum Kasbeg, dem Berg des Prometheus.
Ausführliches landeskundliches Kapitel und viele
reisepraktische Hinweise, Adressen und Empfehlungen zu Unterkunft,
Essen und Trinken, Verkehrsmitteln; zahlreiche Exkurse mit
Hintergrundinformationen. (Reise Know-How Verlag Rump)
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Nana
Ansari: "Die georgische Tafel. Mit 151 Rezepten"
Die georgische Küche zeichnet eine große Vielfalt
aus, die nomadische Traditionen und osmanische, russische, persische,
arabische
Einflüsse miteinander verbindet. Zentral ist die
Bedeutung des Granatapfels
und der Walnuss, als Saucen zu Fisch und
Fleisch.
Georgiens Kochkunst kennt eine differenzierte Fest-, Ess- und
Tischkultur als soziales Element einer sehr alten Gesellschaft.
Georgier setzten sich nicht nur zum Essen und Trinken an den Tisch, sie
versammeln sich mit Familie und Freunden, um edlen Wein und
köstliche Gerichte zu genießen, außerdem
geht es um ein Ritual, das freundschaftliche Beziehungen schafft bzw.
festigt und dabei der Vorfahren gedenkt. Bei der georgischen Tafel, der
Supra, zentraler Bestandteil der kulturellen Tradition, gelten
besondere Tischsitten, die an der Struktur Wein und Brot, Trinkspruch
und Gesang orientiert sind. An einer Supra nehmen bis zu 500
Gäste teil. Der Tafel sitzt der Tamada, der Leiter der Supra,
vor. Er hat eine verantwortungsvolle und ehrenvolle Aufgabe, denn er
sorgt für das Gelingen der Tafel.
Das Buch führt in die Esskulturgeschichte des Landes ein und
gibt Rezeptbeispiele, die es ermöglichen, an dieser alten
Kultur teilzuhaben. (Mandelbaum)
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