Michael Günter: "Gewalt entsteht im Kopf"
Als ärztlicher Direktor der
Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik
Tübingen befindet sich Professor Dr. Michael Günter in der besonderen
Lage, jugendliche Gewalt, wie das Totprügeln, Quälen und Missbrauchen von
Mitschülern, auch von der anderen Seite ergründen zu können. Sein
besonders Augenmerk liegt dabei darauf, wie aus Fantasien schließliche
Akte werden, und welche Faktoren diese Entwicklung begünstigen können.
Um dem Leser anschaulich erklären zu können, verknüpft er Beispiele
seiner klinischen Praxis mit solchen aus populären Filmen. Wobei
allerdings schon vorweg angemerkt sei, dass die Filmbeispiele, mit denen
das Buch zwar beworben wird, vorwiegend dazu dienen, schließlich die
Praxisbeispiele, und wie es zu diesen kam, deutlicher und für die Leser
unvoreingenommener verständlich zu machen. Schon in seinem Prolog betont
Günter, dass der Bezug "Filme" durchaus auch gewollt war, um sein an
einen breiten Leserkreis gerichtetes Sachbuch auch interessant und
spannend zu lesen zu gestalten. Zudem soll die Nutzung der von ihm
angeführten Filmbeispiele zu eigenen Betrachtungen der darin
vorkommenden Gewaltphänomene einladen.
Professor Günter beginnt sein Buch bereits mit dem wohl klassischsten
der vorgestellten Filme ("Spiel mir das Lied vom Tod") und einem damit
verbundenen Phänomen, das sich bereits in antiken Überlieferungen finden
ließ: Rache. Im Film ist es "Mundharmonika", der miterleben und
sprichwörtlich mitertragen muss, wie sein Bruder vom Sadisten Frank
ermordet wird. Von Schuldgefühlen und Rachefantasien geplagt, mutiert er
zum traumatisierten Rächer, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Franks
Umtrieben ein für allemal ein Ende zu setzen. In der Realität sind es
wohl Fälle wie jener der 15-jährigen Jennifer, die trotz jahrelangen
Missbrauchs durch ihren Bruder stets von ihrem Umfeld abgewiesen wurde
und schließlich versuchte, den Bruder zu erschießen.
Dem besonderen Phänomen Macht und magische Kräfte widmet sich das Buch
im Anschluss daran am Beispiel des auf Otfried
Preußlers
Roman basierenden Films "Krabat", ehe Günter sich am Beispiel des
Filmklassikers "Uhrwerk Orange" (von Stanley Kubrick, basierend auf
Anthony Burgess' Roman) zuwendet, an dessen Beispiel er nachzuvollziehen
versucht, welchen Einfluss Lust an und Ausübung von Macht auf einen
Menschen haben können.
Mit einem wohl modernen Klassiker, dem Meisterwerk der Gebrüder
Christopher und Johnathan Nolan, "The Dark Knight", setzt sich
"Gewalt entsteht im Kopf" gleich in zwei eigenen Kapiteln auseinander.
"Gewalt als letzter Ausweg" nennt sich das erste und scheint gleich sehr
gut zur Filmthematik zu passen, in der sich auch Filmheld "Batman"
alias Bruce Wayne durch die sich radikalisierende Unterwelt Gothams und
die Personifizierung dieses Vorgangs, "Joker", gezwungen sieht,
seine Regeln über Bord zu werfen und selbst zunehmend gewalttätiger und
skrupelloser vorzugehen. Doch stattdessen beschäftigt sich der Autor
vorgeblich mit den drei Formen der Gewalt durch die drei männlichen
Hauptcharaktere, wobei allerdings Harvey Dent (dessen Schurkennamen "Two-Face"
Günter allerdings fortlaufend als "The Two Faces" verfälscht)
die größere Aufmerksamkeit erfährt. Der nach Günter eher biedere
Batman wird aufgrund dieser vom Autor konstatierten Biederkeit in
der Interpretation außen vor gehalten. So beschäftigt sich das Kapitel
dann vor allem mit den Auswirkungen des Verlustes Rachels auf Harvey
Dent und wie daraus dessen Persönlichkeitsspaltung entstehen konnte,
anstatt sich damit zu befassen, welche verheerenden Auswirkungen dieser
Verlust auf Batman hatte, der in Rachel immerhin den Ausweg aus
seinem Doppelleben sah.
Das zweite "Dark Knight"-Kapitel über die "Drei Gesichter der
Gewalt" beschäftigt sich relativ knapp wiederum mit einer genauen
Untersuchung der drei Hauptcharaktere. Ein interessantes Phänomen für
Cineasten ist allerdings, dass sich gerade der Psychologe Günter bei
seiner Interpretation der nolanschen Filmfiguren auf fast
plakative Formeln beschränkt und einen Teil ihrer Tiefsinnigkeit
aberkennt, indem er beispielsweise Harvey Dent als bedingungslosen
Strahlemann präsentiert, obwohl man aus dem auf dem Drehbuch und den
Intentionen der Filmschöpfer basierenden Roman zum Film aus der Feder
Dennis O'Neills (eines schon an der Romanfassung "Batman Begins"
beteiligten Comicautors mit Erfahrungen im "Batman"-Universum)
weiß, dass Dent bereits in seiner Kindheit zweifelhafte Erfahrungen mit
Gewalt und Selbstjustiz gemacht hat. Selbst ohne die realen Beispiele
aus Günters Praxis wäre "The Dark Knight" es wert gewesen, eine
psychologische Analyse des Films vorzunehmen. Um allerdings stets auch
den Realitätsbezug zu wahren, musste Günter Beispiele finden, die
unterdessen nicht immer sehr gut zu passen scheinen und zeitweise
zugleich regelrecht profan wirken.
Anhand des ersten "Terminator"-Films James Camerons bemüht sich
Michael Günter schließlich nachzuweisen, dass "Angst, Aggressivität und
Sexualität" zusammengehören und dass Kyles Zeitreise eine ironische
Brechung des Ödipusmythos
darstellt. So stimmig seine Argumentation in dieser Hinsicht auch sein
mag, die Details dürften den teils als Zielgruppe angesprochenen
Cineasten zweifellos ein Dorn im Auge sein. So ist Arnold Schwarzenegger
(das Buch wurde 2011 veröffentlicht) seit 3. Jänner 2011 nicht mehr der
"jetzige" Gouverneur Kaliforniens, die TV-Serie ist bereits seit
ein paar Jahren abgesetzt, und die Marke ist längst nicht der
Publikumsrenner, wodurch ein sechster "Terminator"-Film
derzeit auch gänzlich außer Frage steht; im Übrigen ist Sarah Connor
keine "junge Studentin", sondern war Kellnerin in einem typisch
us-amerikanischen Imbiss.
Den Abschluss der Filmanalysen bildet schließlich "Sleepers" und
das Thema "Gewalt und Entwicklung", mit welchem sich die Kinder- und
Jugendpsychologie genuin auseinandersetzt. Damit verknüpft Günter
allerdings noch andere Beispiel der Sozialpsychologie, wie die
Ereignisse von Abu Ghraib, das Milgram und auch das "Stanford
Prison"-Experiment, welche bewiesen haben, dass auch die ganz
"normalen" Menschen, den entsprechenden Einflüssen ausgesetzt, zu
Grausamkeiten fähig sind, die sie sich selbst nie zugetraut hätten.
Gerade Milgrams
Elektroschockexperimente sind als Klassiker der
Verhaltensforschung das wohl eindrucksvollste Beispiel dafür, wie stark
Autoritäten doch unser Handeln prägen und sogar Zweifel hinwegfegen
können. Am Ende seines Werks hält Professor Michael Günter schließlich
Rückschau und hält fest, dass nicht Gewaltdarstellungen und ihre Inhalte
an sich das Problem sind (etwas, das man ausgehend vom Vorwort noch ganz
anders und mehr dem Zeitgeist entsprechend verstehen könnte) sondern die
soziale Isolation, in der ein geschädigtes Selbstwertgefühl durch
narzisstische Allmachtsfantasien zu reparieren versucht wird und eben
immer wieder dazu führt, dass auf diese Fantasien auch Taten folgen.
Resümee
Phänomene jugendlicher Gewalt zu erklären, ist Professor Dr. Michael
Günter mit "Gewalt entsteht im Kopf" durchaus gelungen, und als Laie
lässt sich wenig gegen Günters Argumentation einwenden. Nur an der Form,
wie er seine Argumente darbringt, lässt sich gerade auch vom Publikum
eines populärwissenschaftlichen Sachbuchs, das mit Bezügen zu
Filmklassikern zu punkten versucht, Kritik üben. Cineasten wird ärgern,
dass der Autor die Filme in mancherlei Hinsicht nicht in gesamter Tiefe
erfasst hat. Und auch Günters Diktion ist etwas, das dem Leser zumindest
auf- und im schlimmsten Fall gar missfallen wird, denn der Autor bedient
sich oft und gerne psychologischer Termini und Formulierungen.
Die zwischendrin oder zumindest am Ende der Kapitel eingebauten
Beispiele aus der kinder- und jugendpsychologischen Praxis sind
unterdessen nicht nur selten schlecht auf die Filmbeispiele abgestimmt,
sondern stellen das Konzept, Film- und Praxisbeispiele zu kombinieren,
in Frage, da durch den Versuch, die Gewaltthematik in den Filmen schon
passend zum Praxisbeispiel zu interpretieren, die Filme in ein sehr
enges Korsett gezwängt werden. Trotzdem ist es dem Autor nicht immer
gelungen, den Lesefluss auch angenehm zu gestalten. Wer sich also eine
"Psycho-Analyse" der Filme erwartet, wird enttäuscht sein, dass die
Analysen bei Weitem nicht so in die Tiefe gehen wie die Ansätze mancher
Filmkritiker. "Hängen" bleibt beim Leser vor allem, dass sich der Autor
in seiner Darstellung weitgehend auf jugendliche Gewalttäter beschränkt
hat, was das Phänomen Gewalt
nur in einem Ausschnitt erfassbar macht.
(Mario Pfanzagl; 03/2011)
Michael Günter: "Gewalt entsteht im Kopf"
Klett-Cotta, 2011. 173 Seiten.
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Ein weiterer Buchtipp:
Steven Pinker: "Gewalt.
Eine neue Geschichte der Menschheit"
Die Geschichte der Menschheit - eine ewige Abfolge von Krieg, Genozid, Mord, Folter
und Vergewaltigung.
Und es wird immer schlimmer. Denken wir. Doch ist das richtig?
In einem wahren Opus Magnum, einer groß angelegten Gesamtgeschichte
unserer Zivilisation, untersucht der weltbekannte Evolutionspsychologe
Steven Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit bis heute und in
allen ihren individuellen und kollektiven Formen. Unter Rückgriff auf
eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen beweist er anschaulich und
überzeugend, dass die Menschheit dazulernt und Gewalt immer weniger als
Option wahrgenommen wird.
Pinkers Darstellung verändert radikal den Blick auf die Welt und uns
Menschen. Und sie macht Hoffnung und Mut. (S. Fischer)
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