Jacques Le Goff: "Geld im Mittelalter"
Zwischen
Himmel und Hölle:
Geldwirtschaft im Mittelalter
Globalisierung, Finanzkrise, Bankenzusammenbruch, Spekulationen - das
sind nur
einige der Reizwörter, die viele Menschen erschauern lassen,
wenn sie mit den
jeweils neuesten Wirtschaftsnachrichten konfrontiert werden und die
viele nach
anderen, alternativen Wirtschaftsformen, in denen Geld und Kapital
nicht an
erster Stelle der gesellschaftlichen Werte stehen, fragen
lässt. Sind
Gesellschaften ohne Geld denkbar und wenn ja, wie? Ein Blick
zurück in unsere
eigene europäische Geschichte kann zwar eine solche Utopie
nicht liefern, aber
diese Geschichte kann uns wunderbar zum Nachdenken über die
menschliche Natur
und Vergesellschaftung anregen sowie vielen Fragen zu einer
vor-kapitalistischen
Wirtschaft im christlich-westlichen Kulturkreis neue Perspektiven
zugrunde legen.
Dem christlichen europäischen Mittelalter ist Geldwirtschaft,
wie wir sie
kennen, fremd. Stattdessen ist es geprägt von einer heftigen
Auseinandersetzung
über Wert und Sinnhaftigkeit von Geld, seine Bedeutung und
seine Gefahren.
Abwechselnd wurde es der Tugend und dem Laster zugewiesen und spiegelte
damit
eine Gesellschaft im Umbruch, wo religiöse Armut und
gewinnorientierte
Wirtschaft nebeneinander existieren. Jacques Le Goff, der
französische Doyen
der europäischen Mittelalter-Geschichtsforschung, hat eine
aufschlussreiche
Studie zu dem Thema "Geld im Mittelalter" geschrieben, die sowohl die
historische Entwicklung als auch die damit einhergehenden
religiösen und
intellektuellen Debatten dokumentiert.
Die Entstehung Europas hat wie bekannt mit Geld absolut nichts zu tun.
Das
antike Geldsystem ist vom Tauschhandel abgelöst,
Geldnutzung von der
Kirche regelmäßig verdammt worden, und die
Münzprägung ist fast verschwunden.
Ungeachtet dessen wuchs mit der Entwicklung des Handels und der
Entstehung der
Städte
der Bedarf an Münzgeld, sodass am Ende des 13.
Jahrhunderts, zur
Hoch-Zeit des Mittelalters, der Geldgebrauch und der Geldumlauf in fast
alle
Teile der Christenheit vorgedrungen waren. Wie konnte das passieren,
müssen
sich wohl Kritiker der Geldwirtschaft fragen. Und, wie ist es
tatsächlich
passiert?
Detail- und kenntnisreich versucht Le Goff die historische Entwicklung
in all
ihrer Widersprüchlichkeit zu rekonstruieren. Er zeichnet das
Bild einer
Gesellschaft, die von der diabolischen Natur des Geldes
überzeugt ist, wo jeder
Zins
als Wucher und in der Folge als Sünde gegen die
göttliche Natur und ihren
Schöpfer gilt. Gleichermaßen wie alles Tun und
Denken, das sich außerhalb der
Kirche zu entfalten begann, Geldwirtschaft genauso wie die
Universitäten, als
diabolisch gebrandmarkt wurde; denn alles, was Gott gehört -
Natur, Zeit,
Wissen - dürfe nicht von Menschen selbstständig und
unabhängig benützt
werden.
Aber: Im Laufe des 13., vor allem aber im 14. und 15. Jahrhundert, kam
es zu
einer allmählichen Rechtfertigung der Zinsleihe. Die Theorie
passte sich nach
und nach an die Neuerungen der historischen Entwicklung, in erster
Linie der
Verbreitung des Geldes, an; was wiederum einen beträchtlichen
Anstieg der
Verschuldung in nahezu allen Schichten der Gesellschaft zur
Folge hatte.
Als Beispiel werden die kleinen Bauern genannt, die ihre
Abgaben nicht
mehr in Gütern, sondern in barer Münze zu entrichten
hatten, was sie damit
auch den Geldverleihern aussetzte.
Le Goff wird nicht müde, immer wieder auf die
Komplexität einer
gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung hinzuweisen,
die keine
geradlinigen Kausalitäten kennt. Als Beispiel nennt er die
"Arbeit",
die vom 12. Jahrhundert an eine grundlegende Neubewertung innerhalb des
Werte-
und Prestigesystems der Menschen im Mittelalter erfuhr, welche parallel
zur
Neuaufwertung der Rolle der Frau verlief, die ihrerseits durch den
Aufstieg des
Marienkults befördert wurde. In der Folge fügte sich
der neu entstandene
Arbeitslohn genauso wie das Münzsystem relativ leicht in den
Funktionsablauf
dieses Feudalsystems ein. Langsam wandelte sich so das (Selbst)Bild des
Menschen
von einem leidenden Geschöpf zu einem Ebenbild
Gottes, einem
schaffenden und
arbeitenden Wesen.
Es ist kein schwarz-weißes Bild des Mittelalters, das Le Goff
vor uns
ausbreitet. Es ist facettenreich und farbenfroh, und es erteilt unseren
Allerweltsweisheiten eine klare Absage. Mit der Entwicklung des
Handels, der Städte
und der Königreiche entstand unwiderruflich eine
blühende Geldwirtschaft, aber
sie blieb immer eingebettet in das riesige Netz der gesellschaftlichen
Beziehungen, in ein religiös geprägtes
Gefüge.
Wenn in der modernen Gesellschaft die materiellen Ungleichheiten und
Ungerechtigkeiten, das zunehmende Auseinanderklaffen von Reichtum und
Armut,
beklagt werden, dann wird oft impliziert, dass eine Gesellschaft, in
der
immateriellen Gütern größere Bedeutung als
materiellen Dingen eingeräumt wird,
notwendigerweise gerechter ist. Aber Le Goff zeigt ausführlich
und detailgenau,
wie eine Gesellschaft, in der das Seelenheil wichtiger als der
Geldbesitz ist,
im Konkreten funktioniert hat. Die sozialen Unterschiede verliefen
anders, aber
nicht weniger rücksichtslos. Schließlich waren sie
ja gottgegeben. Die
Forschungen von Le Goff wären als inspirierende
Lektüre für alle gegenwärtigen
Theoretiker einer geldlosen Gesellschaft zu empfehlen, denn hier finden
sie ihre
Gedanken nicht nur schon formuliert, sondern auch als
gesellschaftsleitendes
Gebot installiert, und trotzdem zeigte sich in der historischen
Realität ein überraschend
pragmatischer Zugang. Denn die Kirche, die mit ihrem Wertesystem die
gesamte
Gesellschaft umfasste, wollte ganz offensichtlich auch den Menschen
helfen, "ihre
Geldbörse und ihr Leben, also weltlichen Reichtum und ewiges
Heil, zugleich zu
sichern".
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 05/2011)
Jacques
Le
Goff: "Geld im Mittelalter"
(Originaltitel "Le Moyen Age et l'argent")
Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet.
Klett-Cotta, 2011. 279 Seiten.
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Eine todernste Satire über die Einführung des
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Börsenkrächen.
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Einblick
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Eine Bank unter freiem Himmel, ein Tisch davor, so sah es im
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die
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zusammenrücken
- in fetten Jahren wie in Krisenzeiten.
Gemeinsam mit Historikern und Wirtschaftswissenschaftlern
schildern
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bis zur industriellen Revolution und zu den großen
Börsenerschütterungen der Moderne - das Streben nach
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barg den Keim der nächsten Krise bereits in sich. (DVA)
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Emile
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Börsenspekulanten und ihre großen und kleinen Opfer
- von ihren Schicksalen
erzählt Emile Zola in "Das Geld". Ein Roman über die
Intrigen und
Machenschaften in der Finanzwelt. (Insel)
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Claudia Honegger,
Sighard Neckel, Chantal
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"Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der
Bankenwelt"
Mit einem Text von Elfriede
Jelinek.
In der verschwiegenen Welt der Banken hat sich eine Art
"Finanzaristokratie" herausgebildet, der die neuerdings
sogenannte
"Realwirtschaft" völlig egal zu sein scheint. Claudia
Honegger,
Sighard Neckel und Chantal Magnin sind mit ihren
Forschungsteams in
diese Welt
eingedrungen und haben mit deutschen, österreichischen und
schweizerischen
"Finanzsoldaten" gesprochen. Die dabei entstandenen
soziologischen
Porträts bilden den Kern dieses Buchs. Sie beantworten Fragen
wie: Wie deuten Banker
und Bankerinnen die Krise auf den
Finanzmärkten? Wie ist es dazu
gekommen? Wer trägt die Verantwortung? Zu den
Porträts kommen Analysen,
Feldbeschreibungen, Essays und ein Glossar. Im Fokus steht
dabei die
Entstehung
von "Söldnerheeren", die gegeneinander kämpften,
zugleich aber einen
Feldzug führten gegen die Bankkunden, die
börsennotierten Unternehmen, gegen
ganze Volkswirtschaften und letztlich gegen die reale Welt.
(edition
suhrkamp)
Buch
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