Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil"
"Papa, weißt Du
überhaupt, wer ich bin?"
Wie geht ein großer Schriftsteller mit der Situation um, dass sein Vater
das Gedächtnis verliert und plötzlich auf große Teile seiner Erinnerung,
seines Wissens und seines Wesens nicht mehr zurückgreifen kann?
Arno Geiger, der erste Gewinner des "Deutschen Buchpreises", tut das mit
viel Feingefühl und großer Liebe und schafft somit ein beeindruckendes
literarisches Porträt seines Vaters August Geiger, das er von den ersten
Anzeichen der Krankheit, die noch als Schrulligkeit des Vaters abgetan
werden, bis zu Momenten, in denen der Vater, der mittlerweile in einem
Heim lebt, nicht mehr weiß, wer er ist, bzw. wo er gerade ist, zeichnet.
"Die Anfänge der Krankheit waren eine schreckliche Zeit, ein
vollkommener Fehlschlag. Außerdem waren sie die Zeit der großen
Verluste.
Das betrifft sowohl das biographische Gedächtnis des Vaters als auch
das konkrete Verschwinden von Dingen, die im Leben des Vaters wichtig
gewesen waren."
Gleichzeitig erzählt Arno Geiger die Lebensgeschichte des Vaters in
einem quasi parallel laufenden Erzählstrang. Sanft gleiten die Ebenen
ineinander über, und so erlebt man das literarische Porträt eines recht
eigenwilligen Mannes vor der Kulisse des zwanzigsten Jahrhunderts und
eine behutsame Aufarbeitung seiner fortschreitenden
Alzheimer-Erkrankung.
Er erzählt von der Jugend im Vorarlberger Dorf, über die Kriegsjahre und
die Kriegsgefangenschaft in den Händen der Sowjets in Bratislava, die
der Vater nur mehr oder weniger durch Zufall überlebt, mit der
ironischen Wendung, dass der Vater viele Jahre später Pflegerinnen aus
der Slowakei haben würde. Er erzählt von der Nachkriegszeit und der
besonderen Situation in der kinderreichen Familie, vom Scheitern der Ehe
der Eltern und, vor allem, viel vom schrulligen, originellen Charakter
des Vaters.
"Der Vater verbrachte jetzt viel Zeit im Keller in der Werkstatt.
Dort konnte er seine Gedanken spinnen oder gedankenlos seinen
Spinnerein nachgehen ...
Wenn jemand wissen wollte:
Wo ist Papa?
Hieß es meistens:
Vermutlich in der Werkstatt.
Was tüftelt er wieder aus?
Irgendeinen Blödsinn."
Arno Geiger erzählt Geschichten aus der Kindheit des Vaters, vom
Großvater Adolf Geiger, dem Dätt, der Angestellter in der damals noch
jungen Stromindustrie war, vom Hof der Großeltern mit Kühen, einem
Obstgarten, einem Acker, einer Streuwiese, einem Stück Wald, einem
Bienenhaus und dem Schnapsbrennrecht für dreihundert Liter Schnaps.
Virtuos wechselt der Autor bald in die Erzählung seiner Kindheit, die
allerdings weiter dazu dient, den Charakter und das Leben des Vaters zu
beleuchten.
Und so zieht der geborene Erzähler den Leser rasch in den Bann seiner
Prosa, die auch die notwendige Suche des Autors nach dem Wesen des
Vaters ist, in den Bann der Suche nach der Antwort auf die Frage, wie
man am Ende der wird, der man ist; sodass man sehr bald nicht mehr
darüber nachdenkt, wo denn nun, wenn überhaupt, die Grenzen zwischen
Wahrheit und Fiktion verschwinden.
Gleichzeitig ist das Buch eine Meditation über Vergänglichkeit, den Sinn
des Lebens und die Unsterblichkeit sowie den Ursprung der Kunst.
"Wenn die Menschen unsterblich wären, würden sie weniger nachdenken.
Und wenn die Menschen weniger nachdenken würden, wäre das Leben
weniger schön.
Ohne die Absurdität des Lebens und die Existenz des Todes wäre weder Die
Zauberflöte noch Romeo
und Julia geschrieben worden. Warum hätte irgendwer sollen?"
Mit "Der alte König in seinem Exil" hat Arno Geiger nach dem wunderbaren
Erzählungsband "Anna
nicht
vergessen" und dem größtenteils überzeugenden Roman "Alles über
Sally" einen echten Wurf hingelegt. Ein intimes, verhaltenes, von einer
Art heiteren Traurigkeit durchzogenes, zum Nachdenken anregendes Buch,
dessen Sätze sehr lange nachhallen.
(Roland Freisitzer; 02/2011)
Arno Geiger: "Der alte König in seinem
Exil"
Hanser, 2011. 192 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Péter Farkas: "Acht Minuten"
Die Liebe im Alter ist stärker als das Vergessen.
Péter Farkas erzählt in "Acht Minuten" von den letzten Tagen eines
dementen Paares, das trotz Alter und Krankheit seine Würde und vor allem
die Liebe zueinander bewahren kann. Für diesen Roman wurde der in
Deutschland lebende Autor mit dem "Sándor-Márai-Preis"
ausgezeichnet und erhielt den Preis für den besten Debüt-Roman in
Ungarn.
Er ist ein alter Mann, und seit einiger Zeit nimmt er merkwürdige
Veränderungen in seiner Wohnung wahr. Eine fremde Frau taucht eines
Morgens auf und verschwindet nach einiger Zeit wieder. Von anderen, ihm
fremden Menschen werden angeblich nützliche Gegenstände in die Wohnung
getragen, und er muss diese Gerätschaften wieder zum Müll tragen. Jüngst
sind sogar die Ehebetten, in denen er und seine Frau bisher schliefen,
auf zwei Zimmer verteilt worden, eine unsinnige Maßnahme, denn nun
schlafen er und seine Frau in einem Bett. Und wer glaubt, er und seine
Frau könnten sich nicht mehr verständlich machen, nur weil sie mit ihrem
Namen nichts mehr anfangen kann und dem Mann die Lust zu sprechen
abhanden gekommen ist, der ahnt nicht, wie gut sie beide miteinander
zurechtkommen.
Aus ihrer ganz eigenen und eigenwilligen Perspektive hat Péter Farkas
die Geschichte eines dementen Paares geschrieben, die Liebes- und
Überlebensgeschichte zweier Menschen, denen die Erinnerung weggeblieben
ist und die sich in ihrer immerwährenden Gegenwart innig miteinander
verbunden fühlen, inniger sogar als je zuvor. Diese beiden Menschen sind
auf ihre Art glücklich, solange sie nach ihren ganz eigenen Regeln
zusammenleben können, wer allerdings meint, ihnen helfen zu müssen, und
sich in ihr Leben einmischt, kann Katastrophen auslösen. Einfühlsam und
bewegend erzählt Péter Farkas' Roman von einem erfüllten Leben im
Dunklen, von einem Leben, das seine eigene Würde hat. (Luchterhand
Literaturverlag)
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John Zeisel (Hrsg.): "'Ich
bin noch hier!' Der Demenz trotzen mit Musik, Kunst und sozialen
Beziehungen"
"Ich bin noch hier!" ist eine dringend benötigte Sicht auf Menschen mit
einer Demenz aus der "das Glas ist halb voll"-Perspektive. Es zeigt, wie
man mit jemandem durch den Nebel einer Demenz eine Beziehung aufbauen
kann. Es ist möglich, mit diesen Personen in Verbindung zu kommen, indem
man an ihren Fähigkeiten ansetzt, z.B. das Verstehen von Musik, Kunst,
Mimik, Berührung und das tiefe Bedürfnis, uns um Andere zu kümmern.
Musik zu hören oder Kunstwerke zu betrachten ermöglicht es Menschen, die
mit einer Demenz leben, noch funktionierende Teile ihres Gehirns zu
nutzen und sich auf diese Weise fähig und kompetent zu fühlen.
In "Ich bin noch hier!" skizziert John Zeisel diesen Ansatz. Er ist ein
Erneuerer im Bereich der nichtpharmakologischen Demenzbehandlung und
entwickelte das weltweit Anklang findende Programm "Artists for
Alzheimer's" (ARTZ). In dessen Rahmen werden geführte
Museumsbesuche u.A. kulturelle Erfahrungen für Menschen mit einer Demenz
entwickelt und angeboten.
Über Zeisels Pionierarbeit wurde international berichtet. Zeisel tritt
regelmäßig auf Konferenzen auf. Er leitet dazu an, Reaktionen wie
Agitiertheit, Angst, Aggression und Apathie von Menschen mit einer
Demenz auf eine nicht bedürfnisgerechte Pflege, medizinische Behandlung
oder physische Umgebung nicht der Demenzerkrankung zu verwechseln. Die
deutschsprachige Übersetzung wurde inhaltlich und bezüglich der
Beispiele angepasst und um einen ausführlichen Anhang erweitert. Mit
"Ich bin noch hier!" ist es endlich möglich, Menschen mit einer Demenz
ein qualitätsvolles Leben und eine Verbindung mit vitalen Beziehungen zu
Anderen und zur Welt zu bieten. (Hogrefe Verlag)
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Barbara Strauch: "Da geht
noch was. Die überraschenden Fähigkeiten des erwachsenen Gehirns"
Barbara Strauch zeichnet ein radikal neues Bild dessen, was in unseren
Gehirnen geschieht, wenn wir die Vierzig überschritten haben. Sie
plädiert dafür, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu zu
nutzen, die Struktur unseres Lebens und unserer Gesellschaft neu zu
überdenken.
Wer die vierzig überschreitet, gilt in unserer nach dauerhafter Jugend
strebenden Gesellschaft ja schon fast als alt: Die ersten Falten sind
nicht zu übersehen, das Haar ergraut, und selbst das Gehirn zeigt erste
beunruhigende Ausfallerscheinungen. Man vergisst Namen, findet den
Schlüssel nicht mehr und ist oft nicht so ganz bei der Sache. Der Weg
von der Mittlebenskrise in die Demenz scheint da geradezu vorgezeichnet
zu sein.
Wir wissen inzwischen viel darüber, wie sich das Gehirn von Kindern und
Jugendlichen entwickelt, und darüber, wie es sich im hohen Alter
verhält, doch ausgerechnet unsere Kenntnisse über das Gehirn
in den "besten Jahren", also bei 40- bis 65-Jährigen, waren bislang
dürftig.
Die Wissenschaftsautorin Barbara Strauch schließt diese Lücke. Ihre
Gespräche mit Hirnforschern und Psychologen machen deutlich, dass wir
das Leistungsvermögen des "erwachsenen" Gehirns komplett unterschätzen.
Anschaulich erklärt Strauch, dass es keineswegs einfach abbaut und
krisenanfällig wird, sondern sich in vieler Hinsicht als ausgesprochen
reif, leistungsfähig und ausgeglichen entpuppt. Wir erkennen Muster
besser, verarbeiten Informationen schneller und können Situationen
schneller einordnen. Was heißt da schon "alt"?!
Ein erhellendes und ermutigendes Buch für alle, die in ihren besten
Jahren sind oder sie noch vor sich haben. (Berlin Verlag)
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Thomas Klie: "Wen kümmern
die Alten?"
zur Rezension ...
Julia Haberstroh,
Katharina Neumeyer, Johannes Pantel: "Kommunikation bei Demenz. Ein
Ratgeber für Angehörige und Pflegende"
Die Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz
ist für viele Angehörige und Pflegende sehr aufreibend und schwierig.
Vor allem Kommunikationsprobleme verstärken oft die tägliche Belastung
der Beteiligten. Dieser Ratgeber zeigt Praxisbeispiele und Praxistipps,
wie Kommunikation aufrecht erhalten und die Stärken der Demenzkranken
genutzt und gefördert werden können. Anregungen für Hilfsangebote und
zur Selbstpflege unterstützen Angehörige und Pflegende gesund zu
bleiben. (Springer)
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