Daniel de Vin (Hrsg.): "Max Frisch"

Citoyen und Poet


Max Frisch hat sein Schreiben immer in einen Kontext zu seinem eigenen Leben gesehen. Logisch, wie sollte es auch anders sein, oder? Aber so logisch ist das nicht. Denn dieses sich selbst Erfinden, die Imagination des Selbst, Selbstreflexion bis zum bitteren Ende, die doch nie zu einem Ende kommen kann, kostet sehr viel Kraft. Er hat selbst seine Tagebücher literarisiert, was ihn eklatant von Franz Kafka unterscheidet, der in einem der versammelten Versuche, die poetischen Vorlesungen von Max Frisch zu deuten, auch vorkommt.

Interessanter als die Deutung ist das Original, so äußerte sich Frisch folgendermaßen:
"Als ich die Verwandlung von Kafka zum ersten Mal gelesen habe, war ich Student, jemand gab mir das Büchlein [...]. Anderes was ich damals gelesen habe, zum Teil habe ich es vergessen, zum Teil weiß ich nur noch, dass ich das und das gelesen habe [...]. Hingegen die absurde Geschichte von einem, der eines Morgens, als er aufwacht wie eh und je, ein Käfer ist, das hat sich eingeprägt: als eine Erfahrung, die da ist, auch wenn ich nicht an Literatur denke."

Das gar nicht so kleine Problem bei diesem Sammelband, der anlässlich des 100. Geburtstages von Max Frisch im Jahr 2011 entstanden ist, ist der Gestus der Interpretation einer "theoretischen" poetischen Abhandlung, an der sich Frisch irgendwie ohnehin nicht so recht orientieren wollte.

Neun mit dem Werk von Max Frisch vertraute Menschen (sechs Wissenschafter, drei Autoren) beißen sich zum Teil die Zähne an den poetischen "Theorien" aus, die ein Frisch-Kolloquium im Brüsseler Goethe-Institut Ende 2008 zum Inhalt hatte. Das berühmte schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, das eine futuristische Exemplifikation einer Unmöglichkeit darstellt, aus dem Unbeschreibbaren etwas Dingfestes zu manifestieren oder umgekehrt, ist in die literarische Welt hineingetrieben gar der Hauptgegenstand der Auseinandersetzung. Das geht sogar so weit, dass der Rezensent sich nicht in der Lage sieht, die Interpretation einer "Theorie" mit unendlichen Schnittmengen zu interpretieren.

Nichts desto trotz gibt es bei all den verwissenschaftlichten Versuchsanordnungen doch auch wunderbare Texte, die durchaus einen literarischen Anspruch haben. Diese Texte stammen - und dies ist wohl keine große Überraschung - von den drei Autoren, die sich an die Interpretation ... Oh, und hier ist eben der Unterschied: Die Autoren nämlich interpretieren gar nicht, sondern dringen gleich direkt in die Untiefen der "frischesten" Eigentümlichkeiten. Besonders sympathisch ist der Text von Monique Schwitter, einer Autorin aus der Schweiz, die Theaterregie und Schauspiel in Salzburg studierte und hernach Engagements in einigen hochangesehenen Schauspielhäusern hatte. Monique Schwitter zitiert einen über alle Maßen wahren Halbsatz von Max Frisch: "Es wird anstrengend sein für Sie!" Und diese Schwierigkeit, etwas aus den poetischen Vorlesungen herauszuheben, auf dass es möglicherweise "interpretiert" oder aber "missinterpretiert" werde: Diese Falle könnte ein heftiges Stolpern verursachen. Doch die Autorin entgeht dem möglichen Stolpern, indem sie sich der Unmöglichkeit stellt, eine Stellungnahme über die Vorkommnisse abzugeben, denen sie sich im Rahmen des Kolloquiums konfrontiert sah. Sie beschäftigt sich als Autorin mit den Aussagen von Frisch. Sie verzichtet darauf, etwas hineinzulesen oder hineinzuhören, was dann wiederum nur eine Interpretation einer Interpretation sein mag. Nein, sie geht mitten ins Volle und liebt einen durchaus großartigen Satz:
"Nichts bringt unsere Sehnsucht oder unsere Angst untrüglicher zum Ausdruck als unsere Fiktionen."

Und dann geht es um das Berühmte "Ich muss". Das Schreiben als etwas, das nicht erklärt werden kann und sowieso nicht erklärt werden will. Der Autor schreibt, weil er muss, weil ihn etwas antreibt. Was es ist, bleibt unergründlich. Wenn der Autor wüsste, warum er sich das Schreiben antut, müsste er dann nicht sofort damit aufhören? Max Frisch schrieb sich ja selbst, war eine literarische Fiktion, die auch nur in dieser Ausprägung wahrhaft verstanden werden kann. Der Autor bleibt nicht hinter seinen Texten zurück, doch die Texte ergründen dennoch den Autor. Und die Leser können dann - ja, ja, schon wieder! - interpretieren. Nur diesmal eben nicht graue Theorien, poetische Veranlagungen oder was auch immer Literatur nicht erklärbar macht. Der Autor selbst steht im Mittelpunkt. Die Frage, was er denn mit diesem oder jenem gemeint haben kann.

Der Lieblingstext des Rezensenten ist jener von Ulrich Woelk. Nach Studien der Physik und Philosophie erfolgten ab 1990 (der Autor ist 1960 geboren) literarische Veröffentlichungen. Ulrich Woelk macht etwas, das in einem Sammelband zum 100. Geburtstag von Max Frisch einfach nicht fehlen darf und somit mit Pauken und Trompeten kundgegeben sein muss: Er schreibt über die Identifikation eines Lesers. Frisch und ich. Ja, das Thema von Frisch war doch die Identität, und somit auch die Verstellung, die Kostümierung, die ewige Suche nach dem Ich oder was immer das sein soll, was den Menschen sich selbst mehr oder weniger erkennen lässt. Diese ganz persönliche Geschichte, die Woelk mit der Literatur von Max Frisch verbindet, ist ein Beispiel für das weite Land, das Frisch-Leser in aller Welt zu durchschreiten suchen, ohne unbedingt an ein Ende gelangen zu wollen. Die erste Konfrontation mit Frisch im Alter von 19 oder 20 Jahren. Und die Erkenntnis, dass auch die älteren Helden von Frisch mit ihm älter wurden und ein einige Generationen später geborener Leser irgendwann, wenn es ihm vergönnt ist, ebenso alt ist wie die alten Helden aus dem Frisch-Universum.

Das ist wahrhaftig erfrischend und macht Mut, selbst wieder die Konfrontation mit diesem Autor zu suchen. Und tatsächlich: Wenn Stiller gleich am Anfang des Romans Stiller schreibt: "Ich bin nicht Stiller", dann meint er damit auch: "Wer ich bin, bestimme ich selber." (Woelk) Stiller will nicht der sein, für den er gehalten werden mag, also bestimmt er sich selbst. Das sprengt jeden Rahmen einer Interpretation, auf die ich mich konsequent nicht einlassen möchte.

Der abschließende Text des Sammelbandes ist jener von Robert Menasse. Er vollzieht etwas ganz Unfassbares: Er schreibt von allerlei Dingen, von Globalisierung bis Marxismus, von Engagement bis Spinoza. Ja, er ist Spinoza, und Max Frisch wird nicht ein einziges Mal erwähnt, ist aber insgeheim ein stiller Beobachter, um diese Rezension eines - wenngleich eine Spur zu wissenschaftlichen und also "theoretischen" - Sammelbandes mit einer guten Pointe abzuschließen.

(Jürgen Heimlich; 03/2011)


Daniel de Vin (Hrsg.): "Max Frisch. Citoyen und Poet"
Wallstein Verlag, 2011. 128 Seiten mit 3 Abbildungen.
Buch bei amazon.de bestellen