Peter Rüedi: "Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen"


Friedrich Dürrenmatt war streng genommen ein biederer Zeitgenosse. Er führte eine unauffällige - man dürfte sagen: gut bürgerliche Existenz. Sohn eines reformierten Pfarrers, mittelmäßiger Schüler, Student ohne Studienabschluss, ein freundlicher Bohemien und braver Ehemann. Als Literat hoch angesehen - die Zukunft wird ihm gewiss noch mehr der Rosen streuen, als er in der Gegenwart schon abbekommen hat. Immerhin hat der Gedenkdienst soeben erst eingesetzt.

Peter Rüedi macht mit seiner Dürrenmatt-Biografie einen Anfang. Ein Buch von beinahe schon titanischen Ausmaßen, bei dessen Lektüre man sich stille fragt, ob nach diesem noch Platz für nachfolgende Lebensbetrachtungen sein könnte oder nicht schon wieder, der scheinbar erschöpfend abgehandelten Thematik wegen, ein Schlussstrich gezogen wurde. Doch zuerst noch zurück zu jenem Gegenstand der Neugierde, den ich soeben noch als biederen Zeitgenossen diffamiert habe. Nun, ganz so bieder war er nicht. Nach bestandener Matura stellte sich für Dürrenmatt die Berufsfrage - also die Wahl zwischen einer Laufbahn als Kunstmaler oder als Schriftsteller. Für ihn, so dünkt es mich, war die Ergreifung eines Berufs mehr eine Sache der Neigung und Berufung denn die übliche Resignation vor der Lebensnot, die zum Broterwerb zwingt. Sein Vater hätte es natürlich lieber gesehen, wenn sein Sohn etwas Vernünftiges gemacht hätte: Also ein Studium der Theologie!

Wie dem auch sei, Dürrenmatt sah sich vor die Wahl gestellt, zwischen Kunstmalerei oder Schriftstellerei zu entscheiden. Wobei nach seinem Dafürhalten das Eine das Andere wesenhaft ausschloss. Wer Maler werden will, muss zuerst Handwerker werden. Wer Schriftsteller werden will, muss sich Bildung erwerben - ansonsten sein Schreiben banal bleibt. Und er muss die Kunst des Denkens von der Pike auf erlernen, ansonsten das Geschriebene voll der peinlichen Denkfehler ist. Dürrenmatt entschloss sich für das Metier des Schriftstellers und begann folgerichtig ein Studium der Philosophie. Woraus die spätere Einsicht resultiert, dass Dürrenmatt nicht richtig versteht, wer nicht mit den Grundlagen der Philosophie vertraut ist. Insbesondere die eingehende Kenntnis des dänischen Philosophen Søren Aabye Kierkegaard sei ein wichtiger Schlüssel zu Dürrenmatts Poesie - heißt es.

Für mich weist Dürrenmatt als Mensch gewissermaßen drollige Züge auf. Kurzsichtig, kränklich, korpulent, unsportlich - ein wahrlich Wehruntüchtiger in einer wehrhaften Schweiz. Quasi die lebende Parodie auf jenes hoch gepriesene Soldatentum, dem man in höchster weltlicher (aber durchaus schon göttlich inspirierter) Anerkennung ein Monopol auf den Schutz des Heiligen Vaters zu Rom zuerkennt ("Schweizer Garde"). Zudem ein Eigenwilliger, dem es nicht in den Sinn kommt, vorweg nach etwas Anderem als nach Brotlosigkeit zu streben. Und das im Kernland Calvins, des historischen Errichters einer wohl doch eher als brutal zu charakterisierenden Theokratie zu Genf, wo die Tugend der innerweltlichen Askese den braven Bürger zu beruflichem Erfolg geleitet. Was in Summe allen Wohlstand bringt und solcherweise die Fleißigen, so liest man es in Webers Religionssoziologie, wenn erfolgreich, als vor Gott Begnadete, als folglich Erwählte auszeichnet.
Kurzum: ein gutmütiger Antiheld - so antiheldisch, harmlos und liebenswert wie viele seiner Helden, wenn ich nur einmal kurz an seinen Kommissar Bärlach denke, der, ein alter Mann, den gewiss allerletzten Kriminalfall seines Erdendaseins als Siechender vom Spitalsbett aus in Angriff nimmt. Ein Antiheld, aber nur, was ein klassisches nach Ruhm gierendes Heldentum betrifft - oder besser gesagt: ein Nichtheld, dem allein schon sein Gesundheitszustand - Diabetes, Herzinfarkte, Hepatitis, Asthma, Sehschwäche - nie die Chance zu mehr als zum Schlusslicht gab. Als Held des Denkens darf Dürrenmatt hingegen sehr wohl in Fülle der ruhmreichen Tribute für sich in Anspruch nehmen. Ein Philosoph der Poesie - ein Mann mit Tiefe. Der freilich kein besonders aufregendes Leben führte. Einfach nur Außenseiter war, da es ihm nicht leicht fiel, in einer dynamischen Welt mitzuhalten.

Peter Rüedi setzt diesem - nun ich würde einmal sagen: eigentümlichen - Mann ein würdiges Denkmal. Wobei dieses Denkmal, die erste Dürrenmatt-Biografie überhaupt, nicht weniger eigentümlich ist, als jener Gigant der Literatur, den es zum Thema hat. Es ist weniger eine streng chronologische Aufzählung von Lebensabschnitten, denn ein atmosphärisches Hineintauchen in den Kosmos von Dürrenmatts Welt. Ich gebe zu, damit nicht gleich warm geworden zu sein. Es mangelt dem Text an der gewohnten und bequemen Orientierung an Jahreszahlen, Angel- und Sensationspunkten - wobei es diesem Leben allerdings am aufreizend Anekdotischen fehlte. Und obwohl Rüedi den Leser mit einem Respekt gebietenden Fundus von Wissensgut speist, so bleibt dieses doch amorph - ist nicht von jener leicht reproduzierbaren Fasslichkeit, wie der besitzorientierte Bildungsbürger unserer Tage es so gerne immer hätte. Es beschleicht einen das Gefühl, man hätte etwas allzu Flüssiges in Händen, das einem nicht nur im Moment der Unachtsamkeit leichthin durch die Finger rinnt. Und die infolge nicht abweisbarer Fakten durchaus gerechtfertigte Frage, ob Dürrenmatt, der spätere Kämpfer gegen Faschismus und Inhumanität, eventuell selbst - überzeugter - Nationalsozialist gewesen sei, mündet bei Rüedi in eine perspektivische Betrachtung, die zu dem Schluss führt: Vielleicht - vielleicht aber auch nicht. Wer kann es schon wissen.

Rüedi wendet sich mit seiner Dürrenmatt-Biografie an ein reifes Publikum, das sich nicht erhofft, bei der Lektüre mit (ebenso) unumstößlichen (wie wohl auch voreiligen) Wahrheiten gefüttert zu werden, welches nicht nach aufreizenden Sensationen heischt, und dem es weniger um ein Einsammeln von Besitzstand erhöhenden Fakten - um Mehrung bloßen Bildungsreichtums - geht, denn um die Erkenntnis jener spezifischen Atmosphäre, die Dürrenmatt zeitlebens umgab. Mehr stimmungsvoll denn Gelehrtheit dozierend, geleitet der Autor den Leser auf eine Wanderung in nebelverhangene Gefilde, wo zwar nichts so richtig klar, aber dafür so manches mit tiefem Sinn erblickt wird. Sicherlich kein leichtes Unterfangen, solch einen nach Entgrenzung verlangenden Text zu schreiben, der ob des Verzichts einer strengen Konturierung den Leser herausfordert, vielleicht ihn zuweilen überfordert, indem er ihn immer wieder auf sich zurückwirft, ja, ihm sogar Ratlosigkeit zumutet. Doch sollte sich niemand überrascht zeigen, zumal schon der Titel "Die Ahnung vom Ganzen" am Buchdeckel nur zu deutlich ankündigt, was den geneigten Literaturfreund im Inneren erwartet.

(Harald Schulz; 10/2011)


Peter Rüedi: "Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen"
Diogenes, 2011. 960 Seiten.
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Ein Lektüretipp:

Friedrich Dürrenmatt: "Die Kriminalromane"

In "Der Richter und sein Henker" (1950) betritt Dürrenmatts Ermittler zum ersten Mal die Bühne: Kommissär Bärlach, ein Urgestein des Rechtssystems. Um einen Mord aufzuklären, bleibt ihm aus gesundheitlichen Gründen nur wenig Zeit. Wie Bärlach dabei mit den Begriffen Gerechtigkeit, Moral, Schuld und Strafe umgeht, ist ein Thema, das sich durch alle Kriminalromane Dürrenmatts zieht. So auch in "Der Verdacht" (1951), wo der Kommissär ein zweites Mal gegen Tod und Ungerechtigkeit kämpft: aus unbändigem Trotz, "in dieser Welt zu bestehen und für eine andere, bessere zu kämpfen". In "Das Versprechen" (1958) versucht ein anderer Kommissär, Matthäi, verbissen, einen Kindermörder zur Strecke zu bringen. Dafür scheut er weder die Gefahr noch deren Folgen. "Justiz" (1985) thematisiert die Verwicklungen eines jungen Rechtsanwalts im feinen Netz aus Gerechtigkeit, Rechtssystem und Moral. Seinen fünften (und unvollendeten) Kriminalroman "Der Pensionierte" (1995) begann Dürrenmatt bereits 1969, schrieb ihn jedoch immer wieder um. Der Held des Romans, der kranke, fresssüchtige Kommissär Höchstettler, ist Bärlach wie aus dem Gesicht geschnitten. (Diogenes)
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