Thea Dorn, Richard Wagner: "Die deutsche Seele"
Was ist selbstverständlich
Deutsch? Wer sind die echten Deutschen?
"Was gut und deutsch, wüsst' nimmer mehr, wär's nicht in deutscher
Dichter Ehr ...", holpert ein angebliches Schiller-Zitat
auf
der Außenseite des Grazer Opernhauses. Zu Schillers Lebzeiten und gut
hundert Jahre später beim Bau des Theaters (1899) war man sich
offensichtlich noch sehr sicher, wo die Grenzen zwischen dem Deutschtum
und dem Nichtdeutschtum zu ziehen wären. Aus damaliger Sicht jedenfalls
deutlich südlich von Graz.
Angesichts des schamvollen Blicks auf die (jüngere) deutsche Geschichte
und der immer stärkeren ethnischen Durchmischung lassen sich die
eingangs gestellten Fragen kaum mehr unvoreingenommen beantworten,
jedenfalls nicht, wenn man strikte Trennlinien zwischen Deutschen und
Nichtdeutschen sucht. Denn dann müsste man zum Beispiel gut die Hälfte
der Kandidaten von "Deutschland sucht den Superstar" aus Gründen fremder
Herkunft ablehnen und landet noch schneller, als Thilo
Sarrazin zu argumentieren glaubt, in einer politisch nicht
unbedenklichen Ecke.
Richard
Wagner, geboren 1952, stammt aus dem rumänischen Banat und kam
erst mit 35 Jahren nach Deutschland. Thea Dorn ist Binnendeutsche: Sie
wurde 1970 in Hessen geboren. Als erfolgreiche Schriftsteller fragten
sie sich, worauf die Deutschen stolz sein könnten. Daraus entstand ein
kulturhistorisches Wörterbuch, in dem in sechzig Essays Begriffe von
"Abendbrot" bis "Zerrissenheit" dargestellt werden. Aufmerksame Leser
dieser Rezension werden sich fragen, ob man denn in nichtdeutschen
Gebieten nicht auch am Abend esse und sich zerrissen fühlen könne.
Natürlich! Es ist die - wiewohl unvollständige - Summe und die Auswahl
an Merkmalen der Deutschen, die diese unterhaltsame und erkenntnisreiche
Reise zu den Wurzeln des heutigen Deutschtums ohne Anspruch auf
Vollkommenheit inventarisiert. Dorn und Wagner haben kein Lexikon von
Daten und Fakten ihres Landes zusammengestellt, betreiben keine
Psychoanalyse deutscher Träume und keine Archäologie nationaler
Gedenkstätten; sie versuchen, in ihren Lesern die deutsche Seele
anzusprechen. Wo diese gerne zustimmen, wo die Übereinstimmung gelingt,
ist Deutschland.
Freilich finden sich unter den Essays, die Thea Dorn eher literarisch
und Richard Wagner stärker im Stil eines Sachbuches aufbauen, auch
solche, die ebenso für Österreich gelten könnten, z.B. "Jugendherberge",
"Kirchensteuer", "Schadenfreude", "Schrebergarten", "Sozialstaat".
Doch
die dazugehörigen Texte zeigen das spezifisch Deutsche, die deutsche
Sicht, die Lust vieler - aber sicher nicht aller - Deutscher an diesen
Einrichtungen und Haltungen. Beim Abschnitt zur "Kleinstaaterei" meint
man als Angehöriger des kleinen Staates Österreich seltsamerweise schon
eher, nicht betroffen zu sein. Und "Fachwerkhäuser", "Strandkörbe" und
"Wiedergutmachung" - so einige weitere Kapitel - gab oder gibt es bei
uns wohl ohnehin nicht. Oft scheint es, als haben sich die beiden
Literaten von Sammlungen un- oder kaum übersetzbarer deutscher Wörter
leiten lassen: "Abgrund", "E(rnst) und (U)nterhaltung", "Gemütlichkeit",
"Heimat",
"Kindergarten",
"Kitsch", ...
Gut gewählte Beispiele und ansprechende Bilder frischen die
mannigfaltige und tiefschürfende Kulturgeschichte auf, erleichtern mit
konkreten Hinweisen das assoziative Richtunghalten und verhindern ein
Verlieren im nostalgischen oder gar nationalen Schwärmen. Kein Kapitel
kommt ohne historische Hintergründe aus, und ausnahmslos nie wird auf
die Gegenwart als Keim der Zukunft vergessen. "Jemand, der nicht
weiß, wo er herkommt, kann auch nicht wissen, wo er hinwill",
heißt es dazu im angenehm knappen, nicht einmal zweiseitigen Vorwort.
Deutschsein ist weniger unentrinnbar vererbtes Schicksal, sondern ein
Auftrag, den das Autorenduo wahrgenommen hat, um seinen Landsleuten
Orientierung, Lebensmut und Selbstgewissheit zu geben. Unter jenen, die
fähig und (!) bereit sind, 560 dichte Seiten durchzulesen und darüber
nachzudenken, ist ihnen das sicher gelungen.
(Wolfgang Moser; 12/2011)
Thea Dorn, Richard Wagner: "Die deutsche
Seele"
Knaus, 2011. 560 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Volker Meid (Hrsg.): "Kennst du das Land? Deutschlandgedichte"
Im Land der Dichter und Denker gibt es seit alters her kaum ein
wichtigeres Thema als Deutschland - wo fängt es an, wo hört es auf,
über, unter oder neben allem Anderen, und was ist das eigentlich, und
wenn ja, wie viele? Nicht weniger als Italien (wo
die Zitronen blüh'n) besingt die deutsche Lyrik das Vaterland (in
dem - zuweilen - Kanonen blüh'n), Walther
von
der Vogelweide hat damit angefangen, und Uwu Lena bestimmt damit
nicht aufgehört. Dazwischen martialische Scheußlichkeiten und ehrliche
Tränen des Vaterlandes, das "wir
so
ganz verhehret", scharfe Erweckungsrufe und leise Mahnungen,
es nie wieder zu übertreiben, Hymnen, die man singen muss, und Hymnen,
die man lieber singen würde. All das hat, erstaunlicherweise zum ersten
Mal, in einer wohlabgewogenen und wohlkommentierten Anthologie der
Germanist Volker Meid zusammengestellt. (Reclam)
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Thea Dorn: "Die
Unglückseligen"
Der große Roman über die Sehnsucht nach Unsterblichkeit.
Johanna Mawet ist Molekularbiologin und forscht an Zebrafischen zur
Unsterblichkeit von Zellen. Während eines Forschungsaufenthalts in den
USA gabelt sie einen merkwürdigen, alterslosen Herrn auf. Je näher sie
ihn kennenlernt, desto abstrusere Erfahrungen macht sie mit ihm.
Schließlich gibt er sein Geheimnis preis. Er sei der Physiker Johann
Wilhelm Ritter, geboren 1776. Starker Tobak für eine
Naturwissenschaftlerin von heute. Um seiner vermeintlichen
Unsterblichkeit auf die Spur zu kommen, lässt sie seine DNA
sequenzieren. Als Johannas Kollegen misstrauisch werden, bleibt dem
sonderbaren Paar nur eines: die Flucht, dorthin, wo das Streben nach
wissenschaftlicher Erkenntnis und schwarze Romantik sich schon immer
gerne ein Stelldichein geben - nach Deutschland. In ihrem ersten Roman
seit "Die deutsche Seele" nimmt Thea Dorn uns mit in die Extreme
moderner Biomedizin und zieht uns zugleich in die Untiefen einer
romantischen Seele. "Die Unglückseligen" ist ein großes Lese- und
Erkenntnisvergnügen, in dem sich die lange Tradition des
Fauststoffes zeitgemäß spiegelt. (Knaus)
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