Erwin Seitz: "Die Verfeinerung der Deutschen"
Eine andere Kulturgeschichte
Deutsche Geschichte anders
Es sei an der Zeit, die deutsche Geschichte zu entzerren, schreibt Erwin
Seitz im Vorwort zu seinem umfangreichen Werk "Über die Verfeinerung der
Deutschen". Deutschland in all seinen historischen Facetten habe mehr zu
bieten als Helden, Kriege, Leiden und Disziplin. Es gebe auch eine
andere Seite deutschen Lebens, und zwar die einer Kultur des Genusses
und des Lebens. Seien es eine verfeinerte, ritterlich-höfische Kultur
oder unternehmerische, bürgerlich-patrizische Lebensformen, Das deutsche
Erbe ist jedenfalls mehr als dumpfes Heldentum. Hatte nicht schon Petrarca,
Dichter und Humanist, bei einem Besuch in Köln 1333 verwundert
festgestellt: "Erstaunlich für eine Stadt der Barbaren, welche
Kultiviertheit, welch städtisches Gepräge, welcher Ernst der Männer,
welch gepflegtes Äußere der Frauen"? Es ist genau diese
Verfeinerung, um die es auch dem Autor geht: um den "Schliff
der menschlichen Fähigkeiten, das Urbarmachen der Natur, das
Kultivieren von Landwirtschaft und Lebensmitteln, die Gründung von
Dörfern und Städten,
die Entwicklung von Handwerk, Handel und Industrie, die Pflege von
Sprache, Geselligkeit und Gastlichkeit, von freien Künsten und
Wissenschaften, von Staat und liberaler Rechtsordnung." Wie eben
die Kultur einer entwickelten, zivilisierten Gesellschaft ausschauen
könnte. Deutsche Geschichte anders.
Über 800 Seiten braucht es auch dementsprechend, um den Spuren deutscher
Lebenskunst von den Germanen über die Römer, die mittelalterliche
Königs- und Ritterkultur, bis in die Moderne nachzugehen. Die
Begeisterung, mit der Erwin Seitz, gelernter Koch und studierter wie
ausübender Kulturhistoriker, über viele Jahre Herausgeber des
"Cotta'schen Kulinarischen Almanach", ans Werk geht, ist ansteckend. Er
ist einer jener Sachbuchautoren, die weder einer wissenschaftlichen
Trockenheit huldigen, noch eifernd belehren, sondern stattdessen mit
sichtbarer Freude ihr umfangreiches Wissen vor den Lesern ausbreiten und
mit spürbarer Lust zu ihren Erkenntnissen kommen.
Die Grundfrage, die sich durch das ganze Buch zieht, lautet: Können die
Deutschen (auch) feiern, sind sie ein fröhliches, den hiesigen
Lebensgenüssen zugetanes Volk? Wenn man die Philippika von Luther liest,
ist schwer daran zu glauben. Aber die Herrscher ließen sich nie lumpen.
So ist vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit die Liste legendärer
Hoffeste in deutschen Landen lang: 965 in Köln, 1184 in Mainz,
1500 und 1518 in Augsburg, 1667 in Wien und Anfang des 18. Jahrhunderts
in Dresden. In den freiheitlichen Städten wiederum, in jenen des späten
Mittelalters und der Renaissance wie Nürnberg und Augsburg, aber auch in
den Hansestädten, entwickelte sich eine eigenständige bürgerliche
Lebenskultur. Ein Prozess, der wie es oft scheint, wiederholt
Gegenwind denn Rückenwind ausgesetzt war. Reformation,
Dreißigjähriger
Krieg, Nationalismus, preußischer Militärstaat, Weltkriege, Nationalsozialismus,
die wichtigsten Epochen zu nennen, die einem friedlichen
Entwicklungsprozess entgegenstanden und nicht dazu angetan waren,
"sanfte Lebensfülle" entstehen zu lassen.
Aber dazwischen gab es dann doch immer wieder die Lichtblicke einer
freieren Gesellschaft, die unter Anderem in der Aufklärung einen ersten
Höhepunkt fanden. Lessing
und Wieland
förderten in Deutschland eine freiere Art zu denken und zu leben. Der
antiromanische, antiklassische Zug, welchen Luther gepredigt hatte,
sollte überwunden werden - mit Hilfe einer neuen, aufgeklärten
Menschlichkeit und Humanität. Und auch Goethe
findet hier seinen Platz, der sich sein eigenes Mini-Universum schuf, in
dem er höfische und bürgerliche Lebensart zu vereinen suchte.
Die Kulturgeschichte von Erwin Seitz ist der Versuch, diese deutsche
Geschichte am antiken Erbe der Griechen und Römer als einer entwickelten
Lebensform der Stadt und der Bürger festzumachen und, je näher die
Gegenwart rückt, auch als Geschichte der
asketisch-protestantischen Tradition gegen einen
sinnlich-romanischen Humanismus. Dass diese kulturellen Brüche bis in
die Ess- und Kochgeschichte reichen, stellt Erwin Seitz ausführlich und
durchaus genüsslich bzw. genussbringend dar. Denn Ernährung war und ist
ein zentraler Teil religiöser wie philosophischer Lehrgebäude. So wurde
das erste gedruckte Kochbuch Ende des 15. Jahrhunderts von dem
italienischen Humanisten Platina unter dem Titel "Von der eerlichen
zimlichen auch erlaubten Wolust des Leibs" veröffentlicht. Seine
Hauptthese: Die Feinschmeckerei sollte nicht für sich stehen, sondern
Teil der Ethik und Lebenskunst sein, sollte die goldene Mitte zwischen
Askese und Völlerei bilden. In Anlehnung an Epikur
sollte Essen und Trinken erstens die Gesundheit fördern und zweitens
Lust und Freude bereiten. Christentum und eine Neuauflage der Antike
vermischt, bevor noch der deutsche Protestantismus seinen Siegeszug
antrat.
In den besten Teilen dieses groß angelegten Werkes gelingt es Seitz, mit
leichter Feder und mit überbordendem Detailwissen Begeisterung
auszustrahlen. Es ist spannend und faszinierend zugleich, einzutauchen
in das Treiben einer romanisch-gotischen Großstadt, wie es in Regensburg
noch heute nachvollziehbar ist, oder die Vermischung unter Kaiser
Maximilian von ritterlich-höfischer und bürgerlich-patrizischer
Gesellschaft in Augsburg zu bestaunen. Für alle, die in der Geschichte
nicht so sattelfest sind, ist vieles ein wunderbares Aha-Erlebnis und
setzt sich zu einem neuen, verfeinerten Bild deutscher Geschichte
zusammen. Genau das ist wohl auch das Ziel von Erwin Seitz: in den
Köpfen der Leser ein anderes Bild deutscher Geschichte zu vermitteln.
Nicht eines, das durch Gräuel quer durch die Jahrhunderte geprägt ist,
sondern von Humanismus und feiner Lebensart.
Schade nur, dass diese wirklich umfassende und faszinierende
Kulturgeschichte der Deutschen, welche die philosophischen Betrachtungen
der Griechen und Römer zu Lebenskunst und Lebensart zum Ausgangspunkt
hatte, in den Gourmettempeln Berlins endet. Als ob sie die Krönung der
vorangegangen Jahrhunderte und Jahrtausende wären. Während Seitz zur
kulturhistorischen Verortung des deutschen Mittelalters immer wieder
antike Philosophie heranzieht, bleibt am Ende nur die euphorische
Beschreibung neuzeitlicher Luxusrestaurants. Philosophie und Kultur als
bestimmender Bestandteil von Lebenskunst sind merkwürdig verblasst. Aber
vielleicht ist das ja auch die heutige Realität. Trotzdem: Erwin Seitz
und seine Kulturgeschichte sind absolut lesenswert und wunderbar
geeignet zur persönlichen Weiterbildung.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 11/2011)
Erwin Seitz: "Die Verfeinerung der
Deutschen. Eine andere Kulturgeschichte"
Suhrkamp, 2011. 823 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Erwin Seitz, geboren 1958 in
Wolframs-Eschenbach, lernte Fleischhauer und Koch, studierte
Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Oxford und
promovierte mit einer Arbeit über Goethes Autobiografie. Seitz war von
2002 bis 2008 Herausgeber von "Cotta's kulinarischem Almanach" und lebt
als freier Journalist, Buchautor und Gastronomiekritiker
in Berlin.
Zwei weitere Bücher des
Autors:
Kunst der Gastlichkeit zur
Rezension ...
"Butter, Huhn und Petersilie.
Anregungen für eine bessere Küche"
Der Grat zwischen Gelingen und Nichtgelingen ist beim Kochen oft sehr
schmal. Denn nicht nur die richtige Kombination von Zutaten ist
entscheidend, auch deren Eigenheiten, Feinheiten und Geheimnisse muss
man kennen, um Geschmack und Aroma voll zur Geltung zu bringen.
Kenntnisreich schildert Erwin Seitz Herkunft, Geschichte und Eigenheiten
der wichtigsten kulinarischen Zutaten - angefangen vom Öl über die Kartoffel
bis hin zum Lamm. Diese kulinarische Geschichte verfeinert er mit
reichlich Tipps und Hinweisen und rundet sein Werk mit vielerlei
leckeren und anregenden Rezeptvorschlägen zum erfolgreichen Nachkochen
ab. So kann in der Küche nichts mehr schiefgehen. Eine wunderbar leicht
geschriebene Philosophie der kulinarischen Genüsse. (Insel)
Buch bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Wilfried F. Schoeller: "Deutschland vor Ort. Ungewöhnliche
Entdeckungsreisen"
Vorortsiedlungen und ländliche Idyllen, Industrieruinen und
Aussichtsberge, lauschige Gassen und ein Speisewagen: Wilfried F.
Schoeller hat sich auf den Weg gemacht, von Berlin bis Rüdesheim, von
Regensburg bis Bad Freienwalde. Aus 32 Ortsbesichtigungen setzt er ein
buntes Mosaik deutscher Geschichten, Mythen, Kuriositäten und
Erinnerungen zusammen. Wer die anschaulichen, mit vielen unbekannten
oder wenig geläufigen Informationen gespickten Beschreibungen gelesen
hat, fährt mit anderen Augen durch das Land oder findet neue Reiseziele.
(dtv)
Buch bei amazon.de bestellen
Thea Dorn, Richard
Wagner: "Die deutsche Seele"
Von Gemütlichkeit und Grundgesetz, von Abendbrot bis Zerrissenheit.
Alles was deutsch ist.
So ein Buch hat es noch nicht gegeben. Zwei Autoren, wie sie
unterschiedlicher nicht sein könnten, erkunden liebevoll und kritisch,
kenntnisreich und ohne Berührungsängste, was das eigentlich ist, die
deutsche Seele. Sie spüren sie auf in so unterschiedlichen Begriffen wie
"Abendbrot" und "Wanderlust", "Männerchor" und "Fahrvergnügen",
"Abgrund" und "Zerrissenheit". In sechzig Kapiteln entsteht auf diese
Weise eine tiefgründige und facettenreiche Kulturgeschichte des
Deutschen.
Alle Debatten über Deutschland landen am selben Punkt im Abseits: Darf
man das überhaupt öffentlich sagen, etwas sei "deutsch" oder "typisch
deutsch"? Kann man sich mit dem Deutschsein heute endlich versöhnen? Man
muss es sogar, meinen Thea Dorn und Richard Wagner. Sie verspüren eine
große Sehnsucht danach, das eigene Land wirklich kennen zu lernen, und
machen Inventur in den Beständen der deutschen Seele. Ihr Buch ist eine
erkenntnisreiche und unterhaltsame Reise an die Wurzeln des nationalen
Erbes und geht durchaus ans Eingemachte. Obwohl es sich auch als
Enzyklopädie lesen lässt, sind die Texte nicht aus nüchterner Distanz
geschrieben. Auf diese Weise entstehen leidenschaftliche Plädoyers für
bestimmte Merkmale des Deutschen, für ein damit verbundenes
Lebensgefühl. Diese "Liebeserklärung" der Autoren ist ein sinnliches,
reich bebildertes Buch, das die deutsche Seele einmal nicht seziert,
sondern sie anspricht. (Knaus) zur
Rezension ...
Buch bei amazon.de bestellen
Reinhard Wittmann:
"Geschichte des deutschen Buchhandels"
Das Buch gibt einen Überblick über die mehr als fünfhundertjährige
Geschichte des Schreibens und Herstellens, des Verkaufs und der Lektüre
von Büchern im deutschsprachigen Raum. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen