Margriet de Moor: "Der Maler und das Mädchen"
Skizzierte
Lebenslinien und
die Suche nach dem Moment der Ewigkeit
Lebensgeschichten im Europa des 17. Jahrhunderts. Die Niederlande
hatten sich
eben zur führenden Weltmacht und Handelsnation entwickelt und
in ihrem Gefolge
eine Epoche hervorgebracht, die in die Geschichte als ihr "Goldenes
Zeitalter" eingehen sollte. Geprägt von einer bis dahin nicht
gekannten Blüte
von Kultur und Kunst, wurde die reiche und mächtige
Handelsmetropole Amsterdam
zum Anziehungspunkt vielfältiger wirtschaftlicher, sozialer
und kultureller
Ambitionen. Wie viele Andere ihrer Zeit brach auch Elsje Christiaens
aus ihrer dänischen
Heimat auf, um im fernen Amsterdam Glück und Arbeit zu finden.
Sie war gerade
18 Jahre alt und erreichte auf einer abenteuerlichen Reise
schließlich jene
Stadt, in der ein gefeierter Künstler von ihrem schnellen Tod
ein Zeugnis für
die Nachwelt ablegen wird, als er sie als Tote am Galgen
hängend zeichnet. Der
alte Maler und das junge Mädchen, Rembrandt
und Elsje, eine beiläufige, flüchtige
Begegnung, beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, am
Ende ihrer
Lebenswege.
Ist es das, was beide verbindet? Das Ende? Es ist jedenfalls der Anlass
für den
Maler, gegen seine bisherigen Gewohnheiten, sein Atelier zu verlassen
und eine
Szene in der Natur zu zeichnen. Will er den Tod einfangen oder das
Leben, als er
den Leichnam einer hingerichteten Mörderin skizziert? Wir
wissen es nicht. Auch
die Autorin nicht, die diese Geschichte erzählt und die gar
nicht erst
versucht, Fakten und Antworten zu finden, wo es keine gibt.
In ihrem historischen Roman rekonstruiert Margriet de Moor diese zwei
Lebenslinien, die sich zufällig kreuzen und ein Stück
Ewigkeit hinterlassen.
Im Hintergrund lässt sie den Alltag dieser blühenden
Handelsstadt lebendig
werden, schildert die Beschwerlichkeiten einer Seereise, wie sie die
blutjunge
Elsje ganz allein unternommen hat, und die Höhen und Tiefen
eines Lebens als Künstler.
Sie erzählt von der Pest,
der auch Rembrandts zweite Frau erlag, und von dem für
ein junges Mädchen gefährlichen Wagnis, in einer
Großstadt Fuß zu fassen.
Es sind Skizzen, die vor unseren Augen entstehen, einmal
flüchtig, dann wieder
detailverliebt. Skizzierte Leben, skizzierte Geschichte, skizzierte
Landschaften
als Entwurf und Versuch der Darstellung einer Idee. Aber welcher? Von
Rembrandt
wissen wir nicht, was die Intentionen seiner Skizze einer erdrosselten
Straftäterin
waren. Interessierte ihn die Körperhaltung einer
gedemütigten, ermordeten
jungen Frau, oder waren es die Spiele von Licht und Schatten? Zwei
Skizzen hat
der Meister angefertigt, beide gerade einmal 17 x 9 cm groß,
beide befinden
sich heute unter dem Titel "Elsje Christiaens hanging on a
Gibbet"
im Metropolitan Museum in New York.
Rembrandts Skizze, um die sich der ganze Roman dreht, ist nicht
abgebildet, so
wie der Maler auch nicht mit seinem Namen genannt wird. Nur das
Mädchen behält
seinen richtigen Namen.
Besagte Skizzen zeigen ein junges Mädchen, fast noch ein Kind,
am Galgen,
hilflos und unweigerlich tot, die Augen geschlossen, das Gesicht mit
einem
Ausdruck von ungläubigem Staunen und Resignation. Das Beil,
die Tatwaffe, wurde
neben den Kopf gehängt.
Wusste Elsje Christiaens, was sie tat? Sie war vom Land. Kannte ein
Beil und
wusste, was passiert, wenn man damit auf einen Menschen
einschlägt. Elsje. Sie
war keine zwei Wochen in der Stadt, als sie ihre Vermieterin erschlug,
dann
gefasst, vor Gericht gestellt und zum
Tod
verurteilt wurde. Nach der öffentlichen
Hinrichtung machte sich einer der größten Maler
seiner Zeit auf den Weg zum
Galgenplatz, um ihren Leichnam zu zeichnen. Er wusste wohl, was er tat.
"Zeichnen ist die Ruhe deiner Gedanken", schreibt de
Moor. Die
Natur des Lebens und des Todes skizzieren und festhalten in alle
Ewigkeit. "Die
Wirklichkeit malen. Als einzigen, wahrhaften Lehrmeister der
Schönheit die
Natur
akzeptieren. Aber - was ist die Natur des Todes?"
Kunsthistorisch interessant ist, dass Rembrandt zum ersten Mal
tatsächlich
"nach der Natur" zeichnet. Bis dato sind alle seine realistischen
Bilder von Bauern und Bettlern, Landschaften und Tieren im Atelier
entstanden.
Was hat ihn plötzlich bewogen, das gehängte
Mädchen in natura zu zeichnen? Es
bleibt ein Geheimnis, genauso wie das Kreuzen zweier Lebenslinien, die
unterschiedlicher nicht sein können. Vielleicht ein offenes
Geheimnis: "Aus
großer Entfernung aufeinander zugereist. Und jetzt diese
Szene. Die Begegnung
eines ehr dummen Mädchens und eines Mannes, der absolut nicht
weiß, wohin mit
seinem Kummer, aber viel vom Malen versteht. Was sie verbindet,
verdichtet sich
in diesem Moment. Wie wenig es doch braucht, damit er fortdauert,
nicht
nur für
kurze Zeit, sondern für immer. Eine kratzende Feder."
Margriet de Moor knüpft mit diesem Roman an ihre literarische
Auseinandersetzung mit der Welt der Kunst und der Künstler an,
die sie in ihrem
Werk immer wieder thematisiert hat. Etliche ihrer Bücher
kreisen um Musik - sei
es "Kreutzersonate", in der eine Komposition zum Angelpunkt von Liebe
und Eifersucht wird, oder der Roman "Der Virtuose", in dem im Neapel
des 18. Jahrhunderts die Beziehung zwischen einer Adeligen und einem
gefeierten
Belcanto-Sänger, einem Kastraten, in der Symbiose von Musik
und Liebe einen
rauschhaften Zustand erfährt. In allen diesen Romanen versucht
de Moor, die
selbst Pianistin war und später Kunstgeschichte und Architektur
studiert hat,
das Verhältnis von Kunst und Leben auszuloten.
"Der Maler und das Mädchen" kann wohl als Teil dieser
Auseinandersetzung gesehen werden, nicht nur als "makabre Erregung".
Allerdings, auch wenn der Roman mit den Worten beginnt: "An
dem Tag, an
dem das Mädchen erdrosselt werden sollte, war der Maler schon
morgens in die
Stadt gegangen", so ist der Weg bis zum Ende des Tages nicht
nur lang
und oft mühsam, sondern gelegentlich recht ermüdend.
De Moors Sprache (oder
die Übersetzung?) ist häufig genau so holprig wie
Elsjes Reise nach Amsterdam.
Zudem laufen die beiden Erzählstränge über
weite Teile des Romans
nebeneinander, ohne sich zu berühren. Erst zum Schluss
nähert sich de Moor
jenen Fragen, die schon von Beginn an unausgesprochen präsent
sind. Trotzdem:
Mit vielen farbenfrohen Details gelingt es de Moor, in den dichtesten
Passagen
ein vielfältiges Bild von Alltag und Lebensbedingungen im
barocken Amsterdam zu
zeichnen und die so unterschiedlichen Lebenswege und Lebensbedingungen
wie von
dem jungen unbekannten Mädchen und dem berühmten
Maler anschaulich
darzustellen.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 03/2011)
Margriet
de
Moor: "Der Maler und das Mädchen"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Hanser, 2011. 304 Seiten.
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