Bora Ćosić: "Eine kurze Kindheit in Agram"
1932-1937
"Das
winzige Geschöpf, ein nur wenige Jahre alter Knabe, bringt
nichts mit, hat noch nicht genügend Erinnerungen,
sein Gedächtnis wird von kaum einer Quelle gespeist, alles
liegt noch vor ihm, alles hängt davon ab, in welche Richtung
sein Blick geht." (Seite 76)
Kindheit ohne den Filter erwachsener Augen
Erinnerungen können vergessen werden, Orte und Worte sterben.
Auch "Agram" ist ein sterbender Ortsname, den ich fast nur aus einem
Scherz kenne, an den sich meine Großmutter aus ihrer eigenen
Jugend erinnerte: "Was ist die leichteste Stadt der Welt?" -
"Agram wiegt nur a ('ein') Gramm." So verweist schon der
Titel auf eine herausragende Eigenschaft des Buches: Es lebt
kompromisslos aus der Vergangenheit und der Eroberung einer schon
vergangenen Zukunft.
Auch das serbische Original ("Detinjstvo u Agramu. Ljuske od Jajeta
1932-1937") ist eine Anspielung. Es klingt an einen Buchtitel des
vermutlich berühmtesten kroatischen Autors der Moderne an, an
Miroslav Krležas "Djetinjstvo u Agramu godine 1902-1903". Bora Ćosić
lässt die Geschichte noch einmal erleben, diesmal mit den
Augen eines Serben, dessen Eltern sich kurz vor seiner Geburt in Zagreb
niederließen und der selbst als reifer Mann während
der Milošević-Jahre wieder ins "feindliche" Kroatien, nach
Rovinj, übersiedelte.
Die Rückkehr in die Kindheit, in die eigene Biografie in einer
Stadt, die nun aus serbischer Perspektive die Hauptstadt eines anderen
Landes ist, ist bei Bora Ćosić mehr als ein erzählerischer
Blick zurück. Es geht nicht um geschönte oder als
traumatisch abgetane Kindheitserinnerungen. Eigentlich ist "Eine kurze
Kindheit in Agram" kein Buch der Erinnerung, sondern des Neuerlebens
der ersten Lebensjahre. Der Autor taucht noch einmal ins Geschehene
ein, schildert das Großwerden, das Wachsen des eigenen
Körpers, der Gedankenwelt und die Mehrung des
Erfahrungshorizonts ausschließlich aus der damaligen
kindlichen Perspektive - freilich aber in der reflektierenden Sprache
eines Erwachsenen. Irgendwann war alles neu: Kinderkrankheiten,
Hauspersonal, die straßenseitige Fassade des Wohnhauses,
Geschäfte der Umgebung. Er erlebt die Dämmerung und
das langsame Hervortreten von schemenhaften Umrissen als Bereicherung,
auch wenn so manche Einzelheit vorerst vor allem
furchteinflößend ist. Der kleine Bora ist
zunächst tabula rasa, seine Neugier und später das
Wiedererkennen von Bildern trifft die Welt an vielen verborgenen
Stellen. Angesichts der beiden gleichartigen Türme der
Zagreber Kathedrale fragt er sich, ob denn alle Dinge der Welt eine
gespiegelte Ergänzung hätten. Manches versteht er
sofort, andere Beobachtungen geben Rätsel auf. Warum geht
kochende Milch über? Wozu dient die schmale Vertiefung nahe
der stumpfen Seite einer Klappmesserklinge? Warum tragen manche Herren
einen ovalen Rahmen mit einem straff gespannten Netz und langem Griff
mit sich? Erst am Tennisplatz löst sich das Rätsel.
Lesen lehrt den vierjährigen Bora die Großmutter.
Eine bebilderte Fibel erschließt ihm die gedruckte Welt der
Bücher, den Widerhall von Lauten, die er schon tausendfach aus
den Mündern verschiedener Menschen gehört hatte. Aus
dem Lesenkönnen wird eine Lesewut. Er überschreitet
die "Grenze zwischen Nichtsein und Wirklichkeit",
aus der Vorrede der Existenz wird ein Buch des Lebens. Die
Lektüre praktisch aller Schriftstücke im Umfeld des
Knaben - Aufschriften, Plakate, Rechnungen, Rezepte, Notizen -
intensivierte das Welterleben und konservierte es für den
Umzug in eine andere Stadt, nach Belgrad.
Besonders die Schilderungen vom Lesenlernen und der
persönlichen Welteroberung im Lesen
auf den etwa letzten 20
Seiten des Buches gehören zum Berührendsten dieser
Kindheitsautobiografie. Im Rückblick ist jedes Erleben ein
Erlesen. Diese Sprachwerdung des späteren serbischen Autors
ist aber keine allgemein gültige Geschichte einer Generation,
sondern individuelle Selbsterziehung.
Zwanzig gut gewählte zeitgenössische Bilder, meist
Zagreber Stadtansichten und Fotografien aus dem Album der Familie
Ćosić, machen über die präzise, elegante und Gedanken
anregende Sprache hinaus das Staunen des jungen Bora über Sein
und Schein der Welt für die Lesern nachvollziehbar.
(Wolfgang Moser; 12/2011)
Bora Ćosić: "Eine kurze Kindheit in Agram"
Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert.
Mit zahlreichen Abbildungen.
Schöffling & Co., 2011. 156 Seiten.
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Bora
Ćosić, 1932 in Zagreb geboren, ist einer der großen
europäischen Schriftsteller und hat in mehr als
dreißig Prosa- und Essaybüchern vielfältig
das Sinnlose, Groteske, Absurde und Tragische der Geschichte des Balkan
gezeichnet.
Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter
2002 den "Leipziger Buchpreis zur Europäischen
Verständigung", 2008 den "Albatros-Preis der
Günter-Grass-Stiftung"
sowie zuletzt den "Internationalen
Stefan-Heym-Preis" 2011.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Die Tutoren"
Was für Irland Joyces "Ulysses",
ist für Serbien "Die Tutoren": ein avantgardistisches, fast
unübersetzbares Meisterwerk voller Wortspiele und Stilbrüche, ein
experimentelles Labor der Sprache - aber dabei hochkomisch!
Im Mittelpunkt steht eine in Slawonien angesiedelte Familienchronik, die
auf vielfältige Weise erzählt wird: anhand einer Rauferei in einer
Kneipe, in Form eines Lexikons oder als Beratungsgespräch in einer
Buchhandlung. Dabei hat der Erzähler als leidenschaftlicher Sammler
kurioser Phänomene ein besonderes Augenmerk für Alltagsdinge.
Bora Ćosić, der während der Entstehung der "Tutoren" mit
Veröffentlichungsverbot belegt war, bietet alles auf, womit sich
nationalistische Mythen und Ideologien jeglicher Couleur lächerlich
machen lassen: Ausgehend von einem rebellischen orthodoxen Priester des
19. Jahrhunderts über tatkräftige unternehmerische Frauen bis hin zu
einem namenlosen Autor spannt er einen Bogen über 150 Jahre
europäischer Geschichte. (Schöffling & Co.)
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"Frühstück im Majestic. Belgrader Erinnerungen"
Nach Jahren des Exils kehrt Bora Ćosić nach Serbien zurück. Im
Hotel "Majestic" im alten Zentrum von Belgrad erlebt er die Stadt, als
ob das Leben auf den Straßen und Plätzen
stehengeblieben wäre: Die Prachtbauten, die Passagen und
Buchhandlungen, die alten Stoff- und Hutläden. Und die
Menschen: Ein ehemaliges Dienstmädchen, das Wäsche
und Wände bemalte, ein Maler, der sich am Geruch der Farbtuben
berauschte, ein surrealistischer Dichter, der eine lebendige Schnecke
aß. Cosic erzählt von der Wunderkammer seiner
Kindheit, von jenem Viertel im Zentrum, in dem die Belgrader Moderne
entstand und bis heute fortwirkt. (Hanser)
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"Die
Rolle
meiner Familie in der Weltrevolution"
"Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution", heute ein Klassiker
der europäischen Literatur, war ein Kultbuch in Jugoslawien.
Aus der Perspektive eines Kindes - unschuldig bis zur Idiotie - wird in
kaum zu überbietender Knappheit vorgeführt, wie
Krieg, Faschismus und Kommunismus den Mikrokosmos einer
heruntergekommenen Familie in Belgrad der 1940er-Jahre heimsuchen. Hier
hält man Lenins Schrift "Ein Schritt vor, zwei
zurück" für ein Tango-Lehrbuch, diskutiert
über Zwerge in Einmachgläsern und geht in Deckung,
wenn die Partisanen den Freund von gestern zum Feind erklären.
Die unheimliche Lakonie des Erzählers, der irrsinnige Witz und
melancholische Humor des Buches machen es zu einem Meisterwerk der
Subversion. (Suhrkamp)
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"Im Ministerium für Mamas
Angelegenheiten"
Schattenwerfer, Schürzenjäger, Zauberer, Russen,
Lumpen ... diese und viele andere Gewerbetreibende bevölkern
das Buch von Bora Ćosić. Sie treffen als bunt schillernde Darsteller
eines Gewerbes, einer Berufung oder Lebensauffassung, leicht
überdreht, auf sympathische Weise real, auf eine
heruntergekommene Familie im Belgrad der 1940er-Jahre: auf den
daueralkoholisierten Vater, die geplagte Mutter, den
frauentröstenden Onkel, die empfindsamen Tanten und den
rechthaberischen Großvater.
Aus der Perspektive des naiven Kindes erzählt der Autor
turbulente Geschichten aus großen Zeiten: vom Ende des
Zweiten Weltkrieges, von der Befreiung Belgrads vom Hitlerfaschismus,
von den Partisanen und den russischen Befreiern und von den ersten
Jahren des sozialistischen Aufbaus. Lakonisch und witzig vermengt Ćosić
Authentisches mit Fiktivem, Banales mit Fakten von historischer
Tragweite, Details mit Universellem.
So spinnen "Mamas Angelegenheiten" die Geschichten über
Gewerbe dort weiter, wo das Kultbuch "Die Rolle meiner Familie in der
Weltrevolution" den Faden
auslaufen ließ. (Folio)
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"Die
Vogelklasse"
Gymnasialschüler füllen die Bänke eines
imaginären Klassenzimmers, das in der Provinz zu liegen
scheint. Vier Schüler dieser Klasse müssen das
Schuljahr wiederholen, sie sitzen wider Erwarten im Zentrum des Raumes,
erhöht, und blicken auf den Rest der Klasse hinunter. Dem
Ich-Erzähler kommt das Leben in der Vogelklasse
eingeschränkt vor, wie in der Verbannung, und gemeinsam mit
den Mitschülern schaut er bewundernd zum Wiederholerberg
empor. Für ihn ist die Klasse eine Zwangsgemeinschaft, es gibt
weder Grund noch Sinn für die Zusammenkunft, sie ist
zufällig und doch künstlich herbeigeführt;
sie sind wie Wartende in einem Wartesaal, Statisten in einem
Theaterstück, Schiffbrüchige
auf einem Rettungsboot,
Konserven in einer us-amerikanischen Gemischtwarenhandlung. Bora Ćosić
schält mit einer Fülle an plastischen Bildern den
Zustand der Klasse heraus und erzeugt damit eine absurde Wirklichkeit
des Menschen. (Folio)
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"Das
Land
Null"
"Il Borgo" heißt eine alte Villa über dem Meer. Sie
ist zur Festung geworden, seit das Land ringsum verrückt
spielt und der einzigen bei Verstand gebliebenen Person, dem
Erzähler, einen Belagerungszustand aufgezwungen hat. Er irrt
durch die "Zimmer der Vergangenheit" und
fühlt sich von den Nachbarn observiert - ein isolierter
Bürger und Intellektueller, der sich vor der anbrandenden
Barbarei in seinem Haus verbarrikadiert.
Bora Ćosić schildert in sieben Kapiteln die Urszenen des
osteuropäischen Daseins. Der Mensch in der Warteschlange:
Steht er nicht wie vor den Toren des Paradieses?
Die übervollen Magazine: Sind das nicht die Dinge, die bei
Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Deportationen eingesammelt wurden?
Das durch Bombardierung halbierte Haus: ein Puppenheim, das sich in den
Wartesaal der Geschichte verwandelt hat?
"Das Land Null", ein radikales Alterswerk, vollzieht den
endgültigen Abschied von Belgrad, dem einstigen Schauplatz
einer europäischen Avantgarde, der auch der Autor
angehörte. In verblüffenden Bildern
beschwört er den Zustand der Ereignislosigkeit, der Leere, der
Monotonie, des Wartens, der wie ein verhangener Himmel über
dem östlichen Europa lastete. (Suhrkamp)
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Weitere Buchtipps:
Uwe Mauch: "Zagreb. Die
kroatische Hauptstadt und ihre Umgebung"
Zagreb hat seinen Besuchern zahlreiche Zeugnisse der
neunhundertjährigen Stadtgeschichte, ein reges Kulturleben und
eine in jüngster Zeit deutlich verbesserte touristische
Infrastruktur zu bieten. Das Hinterland lockt mit malerischen
Kleinstädten, Burgen und Schlössern sowie
Weingütern und Thermalbädern.
Der vorliegende Reiseführer ist der erste deutschsprachige
Titel, der die kroatische Hauptstadt mitsamt ihrer Umgebung
ausführlich vorstellt. Fundierte Hintergrundinformationen,
detaillierte Reisetipps und zahlreiche Vorschläge für
Tages- und Mehrtagesausflüge in das Hinterland laden dazu ein,
Zagreb zu entdecken. (Trescher)
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Tomo Mirko Pavlovic: "Lesereise Kroatien. Krawatten,
Schlösser, Weinberghäuser"
Kroatien bietet weit mehr als eine endlose Küste und ein
türkis schimmerndes Meer, etwa eine junge, alte Hauptstadt,
eine vom Massentourismus verschonte europäische Metropole mit
kakanischem Antlitz und einer slawischen Seele. Zagreb und sein
toskanisch anmutendes Hinterland, das hügelige Zagorje, wissen
viele Geschichten zu erzählen. Von Klosterschwestern, die den
Kommunismus und ein marodes Schloss überstanden haben, von
entrückten Wallfahrern, die alljährlich das
Städtchen Marija Bistrica in ein riesiges bukolisches
Volksfest des Marienkults verwandeln. Von einem düsteren
Schriftsteller und seiner künstlerischen Verlorenen
Generation, die im turbokapitalistischen Nachkriegskroatien eine
Identität suchen. Von einem stoischen Vibrafonisten, der in
seinem kleinen dunklen Zagreber Kellerclub die Weltelite des modernen
Jazz zu Gast hat.
Der Journalist, Schriftsteller und Kroatienkenner
Tomo Mirko Pavlovic hat alle diese Geschichten aufgeschrieben,
Reportagen und
Porträts aus einem aufstrebenden, vermeintlich bekannten Land
jenseits von Balkanplatte, Winnetou und FKK. (Picus)
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