Jean Cayrol: "Im Bereich einer Nacht"
"Und
ich beschloss, mich fortan in acht zu nehmen vor meinen
Träumereien, die ja stets nur dieses eine zur Folge hatten:
meine Verurteilung."
Was sind sich die Menschen? Was sind sie einander? Was bedeutet dieser
unzerstörbare Faden Familie,
an den man sich lebtags gebunden
fühlen wird, allein schon, weil die Erziehung diese Spur immer
wieder spürbar werden lässt?
François ist auf dem Weg zu seinem Vater. Die Nacht ist
neblig und kalt.
"Die Sonne verschwand hinter
übereinandergeschichtetem, flachem Gewölk. Der Wind
stand vom Westen. Ein böses Rot lagerte sich über die
Gegend."
Am nächsten Tag hat François Geburtstag. Er kommt
aus Paris, wo die endseptemberliche Kälte in seiner Wohnung
mit seiner Verlobten Juliette sich bereits in seinen Körper
eingefressen hat. François entscheidet sich, vom Bahnhof aus
nach Sainte-Veyres zu Fuß zu seinem Vater zu gehen, damit er
einem öffentlichen Zusammentreffen mit ihm entfliehen kann.
Nicht nur an den offensichtlichen Kommentaren, die François
über seinen Vater
äußert, wird deutlich, dass dieser Fußweg
zu einer psychologischen Selbstreflexion
werden wird. Er wird sich im Nebel der Nacht verlaufen, und die Geister
seiner
Kindheit werden ihn einholen.
Dabei springt die distanzierte, filmische Erzählperspektive
immer wieder ganz
plötzlich in François' Innenperspektive und
löst damit ein für den Leser durchaus
verwirrendes Zerrspiel von Zeit und Person aus.
"François liebte sie nicht, die Wälder,
hatte sie nie geliebt. Eines Tages kam ich
vor einen vereinzelten Baum
zu stehen, der mir den Weg, auf dem ich
gerade
vorwärtsschritt, versperrte. [...] Wieder so ein abgestorbener
Baum! Nicht geborsten
wie der Baum seiner Kindheit."
François, der selbst immer schwächer zu werden
scheint, denn der Hunger und die Gedanken nehmen ihn mit, begegnet den
unterschiedlichsten Menschen. Und sie scheinen alle auf irgendeine
Weise seine
eigenen Gedanken und seine Vergangenheit zu parallelisieren.
"Es gibt, davon bin ich überzeugt, tragische
Ereignisse, die einem zu Hilfe kommen,
die einen keineswegs zerstören, sondern sicherstellen, was
einer noch zu leben hat,
tragische Begebenheiten, die uns ein unversehrtes Glück
aufbewahren."
Dass er seinen Vater treffen muss, eine fast
kafkaeske Beziehung zu ihm führt, die
er in dieser Nacht im inneren Dialog mit sich trägt, dass er
also nicht ausweichen
kann, weil er ja bereits auf dem Weg zu ihm ist und vielleicht auch
darum in der
Verirrung gelandet ist, von den Menschen, die ihm begegnen, aufgehalten
und in deren
Leben hineingezogen wird, dass er nicht umkehren kann, weil er
zurück muss in seine
Vergangenheit, davon erzählt Jean Cayrol in langsamen
Tönen. Die gespenstische
Nachtnatur umgibt den Roman mit einem düsteren Hauch und
spiegelt in ähnlicher Weise
François' Innenleben wieder.
"Die Nacht schien es auf ihn abgesehen zu haben, sie wuchtete
auf ihn nieder -
reglos wie eine Schildwache erstarrte er vor dem stummen
Gehöft."
Die langsamen Töne muten manchmal auch zäh an, weil
sich das Innere des
Protagonisten nicht fortbewegt, weil es an den Altlasten der
unverarbeiteten
Kindheit kleben bleibt. Der Leser wird zum Miterleben gezwungen, das
Nachwort von
Ursula Hennigfeld bringt es auf den Punkt: "Cayrols Roman
verunsichert den Leser,
verlangt eine langsame, wiederholte Lektüre und versperrt sich
unmittelbarer
Sinnstiftung. Auf diese Weise wird der Leser mit der Erfahrung
radikaler Alterität
und Orientierungslosigkeit konfrontiert."
Jean Cayrol, selbst bis 1945 im KZ Mauthausen inhaftiert, ist im
Kontext der
Lager-/Shoa- bzw. Exilliteratur zu sehen. Dass dies aber nicht die
unmittelbarsten
Diskurse des vorliegenden Buches sind, zeigen die vielen
Erzählstränge, auch
François' Verlobte wird im Buch hin und wieder zu Wort
kommen, die Blickwinkel eines
Lebens werden so vervielfältigt, eine letztliche gemeinsame
Frage lässt sich jedoch
durchaus stellen: Was ist es an der Liebe, dass sie, auch in Hass und
Unverständnis,
zum größten Wirkungskreis des Lebens wird, dass sie
sich in der Vergangenheit und
dem Erlebten immer wieder in die eigene Gegenwart begibt, um uns dort
an sie und
ihre Vergänglichkeit zu erinnern?
Das von Paul Celan aus dem Französischen übersetzte
Buch "Im Bereich einer Nacht"
ist wahrlich keine einfache Lektüre. Sie fordert den Leser,
hält ihn auf, so wie
sich François aufhalten lässt. Die Sprache wirkt
hin und wieder alt, unbelebt und
stockend. Man mag beim Blick auf den Übersetzer falsche
Erwartungen haben, diese
sollte man beiseite legen. Dieser Roman von Jean Cayrol steht
für sich, auch wenn
der Übersetzer nicht nur in Deutschland, gar in Frankreich,
berühmter ist als der
Urverfasser des Werkes. Die Geschichte, das, was Cayrol
erzählt, allerdings,
überzeugt. Bis zur letzten Seite.
(Christin Zenker; 04/2011)
Jean
Cayrol: "Im Bereich einer
Nacht"
(Originaltitel "L'espace d'une nuit")
Aus dem Französischen von Paul Celan.
Mit einem Nachwort von Ursula Hennigfeld.
Schöffling & Co., 2011. 255 Seiten.
Buch
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Jean
Cayrol, geboren am 6. Juni
1911 in
Bordeaux, arbeitete nach dem Studium der Jurisprudenz und
Literaturwissenschaft als Bibliothekar. 1941 schloss er sich der
Résistance
an,
kam in deutsche Gefangenschaft und war bis 1945 im KZ Mauthausen
inhaftiert.
Nach seiner Rückkehr nach
Paris arbeitete er als Verleger der
"Editions du
Seuil" und war Mitglied der "Académie Goncourt".
Cayrol verstarb am 10. Februar 2005 in Bordeaux. Für sein Werk
wurde er mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet.