Reinhard Werth: "Die Natur des Bewusstseins"

Wie Wahrnehmung und freier Wille im Gehirn entstehen


Unfrei und gesteuert?

Gibt es einen freien Willen? Können wir wirklich tun, was wir wollen, oder entscheidet sich das Gehirn an unserem Bewusstsein vorbei? Theologen und Philosophen streiten darüber schon lange. Für die Einen - zum Beispiel materialistische Philosophen der Aufklärungszeit - sind alle Ereignisse seit Anbeginn der Zeiten vorherbestimmt und ist Freiheit nur eine Illusion. Andere - zum Beispiel Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre - meinen, wir haben selbst unter Extrembedingungen (Gefangenschaft, Folter) die freie Wahl der Entscheidung, unser Schicksal anzunehmen oder uns ihm zu widersetzen. Neurobiologische Untersuchungen bestätigten jüngst die erste Vermutung.

Ist der freie Wille überhaupt naturwissenschaftlich nachweisbar? Reinhard Werth, Professor am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der Universität München, bejaht diese Frage. "Mit zunehmender Kenntnis der neuronalen Prozesse, die Verhalten und Erleben begleiten oder diesen vorausgehen, stellte sich die Erkenntnis ein, dass alles Verhalten und Erleben von neuronalen Prozessen verursacht, festgelegt, gesteuert, determiniert ist. Das verleitet zu dem voreiligen Schluss, alle Entscheidungen seien unfrei, weil auch sie durch neuronale Prozesse verursacht, festgelegt, gesteuert, determiniert seien", so der Autor. Er tritt in seinem Buch den Gegenbeweis an.

Der Münchner Neuropsychologe kreidet der Wissenschaft an, dass sie in all ihren Behauptungen nie von einer klaren Begrifflichkeit ausgegangen sei. Man kann nicht einfach den Begriff des freien Willens aus der Alltagssprache übernehmen, so Werth, und damit wissenschaftliche Aussagen formulieren. Wichtig sei es, erst einmal den Begriff exakt zu fassen. Nicht nur die neurobiologische Sichtweise ist dabei maßgebend, sondern es sind ebenso mathematisch-logische Aspekte und solche aus der Experimentalpsychologie. Erst mit einer exakten Definition der Begrifflichkeit kann man die neurobiologischen Grundlagen dessen erforschen, was den freien Willen ausmacht. Die bis dato verwendeten Begriffe zeigen, dass es sich bei den meisten Behauptungen um eine Tautologie handelt, bei der etwas mit sich selbst begründet wird.

Unumstritten ist natürlich, dass unsere Entscheidungen von neurobiologischen Hirnfunktionen abhängen. Aber nicht nur. "Ob Ereignisse in unserer Umwelt überhaupt von unserem Gehirn registriert werden und so weit von neuronalen Netzwerken verarbeitet werden, dass sie in unser Bewusstsein gelangen, hängt (...) entscheidend davon ab, ob und wie lange wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten." Und vor allem, ob wir sie erkennen. Bewusstsein ist für Werth die Gesamtheit dessen, was einer Person innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls bewusst ist. Für ihn lässt sich ein freier Wille nachweisen, auch wenn Hirnfunktionen "notwendige und hinreichende ursächliche Bedingungen für Willensentscheidungen sind."

Anhand zahlreicher Fallbeispiele aus seiner eigenen Praxis versucht Reinhard Werth zu widerlegen, dass der Mensch ein "unfreies Wesen" sei. Auf 150 Seiten erläutert er in allen Einzelheiten die Bausteine und Funktionsweisen unseres "Neuronenapparates". Diese Darlegungen sind nicht immer einfach zu konsumieren, setzen sie doch ein gewisses neurobiologisches Grundwissen voraus. Auch wirken sie mitunter über Gebühr ausführlich und detailliert, was die Lesbarkeit und Aufmerksamkeit zusätzlich beeinträchtigt.

Allein den letzten 50 Seiten kommt die Definition des freien Willens zu. Werth zeigt auf, wie Willensentscheidungen im Gehirn entstehen und dass es Wahlmöglichkeiten zwischen Verhaltensweisen gibt. Es schließt sich ein kurzer Ausflug in strafrechtliche Konsequenzen der Schuldlosigkeit bei unwillentlichen Handlungen aufgrund fehlender rationaler oder emphatischer Einsicht bis hin zum freien Patientenwillen an. Den Schluss bildet ein Kapitel, das der Frage nachgeht, ob es ein Bewusstsein nach dem Tod gibt.

Alles in Allem ein höchst interessantes Buch. Allerdings würde man es aufgrund seiner überbordenden Fülle an Informationen und der mitunter nicht leicht zu lesenden, ausschweifenden Ausführlichkeit nicht in das Genre populärwissenschaftliche Literatur einordnen. Der Quintessenz Reinhard Werths ist man jedoch gewillt zu folgen: dass das Gehirn uns zwar Vorschläge unterbreitet, wir jedoch letztendlich selbst entscheiden, ob wir diesen Vorschlag annehmen - Überraschungen inklusive ...

(Heike Geilen; 02/2010)


Reinhard Werth: "Die Natur des Bewusstseins. Wie Wahrnehmung und freier Wille im Gehirn entstehen"
C.H. Beck, 2010. 233 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Buchtipps:

Rita Carter: "Das Gehirn. Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen"

Wie hängen Gerüche mit Empfindungen zusammen, und welche Rolle spielt dabei das Gehirn?
Komplexe Zusammenhänge werden in diesem Band anschaulich erklärt, und es wird auf alle Aspekte der Hirnforschung, von Anatomie und Funktionen über Bewusstsein und Psyche, eingegangen. Mehr als eintausend Farbfotos, Computergrafiken und Illustrationen ermöglichen einzigartig detaillierte Darstellungen und einen außergewöhnlichen Einblick in die faszinierende Thematik. Aktuelle Forschungsergebnisse werden von anerkannten Fachautoren verständlich und anschaulich präsentiert, so dass nicht nur fachkundige Leser einen Überblick erhalten. Das ausführliche Glossar rundet den Innenteil ab und erleichtert zudem die Handhabung. Ideal für Studenten, Mediziner und alle, die mehr über das menschliche Gehirn erfahren möchten. (Dorling Kindersley)
Buch bei amazon.de bestellen

Jörg Starkmuth: "Die Entstehung der Realität. Wie unser Bewusstsein die Welt erschafft"
Jeder Mensch hat einen weitaus größeren Einfluss auf das, was ihm "widerfährt", als wir normalerweise glauben. Wir selbst erschaffen unsere Realität aus einem unbegrenzten, multidimensionalen Raum von Möglichkeiten. Dieses Buch stellt in verständlicher Sprache ein Weltbild vor, das die Grundlagen der modernen Physik - Relativitätstheorie und Quantenmechanik - mit Erkenntnissen der Realitäts- und Glücksforschung und mit spirituellen Erfahrungen verbindet. (Arkana)
Buch bei amazon.de bestellen

Allan J. Hobson: "Das optimierte Gehirn. Wie wir unser Bewusstsein manipulieren, reparieren, ruinieren"
Unser neuronales Bewusstsein lässt sich beinahe beliebig beeinflussen und verändern, aber auch irreparabel schädigen. Wie dynamisch und flexibel Geist und Gehirn kommunizieren, reagieren und interagieren, erläutert Allan J. Hobson, einer der bedeutendsten Traum- und Schlafforscher. In der Welt der Träume und Drogen nahm sie am Rand der Legalität ihren Anfang. Heute greift Neuropsychologie in unser Selbst- und Menschenbild ein und ist dabei, es von Grund auf zu verändern. (Klett-Cotta)
Buch bei amazon.de bestellen

Alva Noë: "Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins"
"Bewusstsein ist nicht etwas, das uns passiert. Es ist etwas, das wir erschaffen." Der Philosoph und außergewöhnliche Denker Alva Noë mischt sich mit diesem besonderen Buch in die Gehirn-Geist-Debatte ein und zeigt: Der Mensch ist nicht bloß sein Gehirn. Er ist weit mehr, er hat Seele, er hat Geist - darum ist er Mensch.
Die Hirnforschung verkündet sensationelle Forschungsergebnisse - und kann dennoch nicht erklären, wie Bewusstsein oder Wahrnehmung entstehen. Mehr Hirnforschung bringt nur mehr Klarheit darüber, dass die Antworten nicht einfach und nicht einfach zu haben sind. Wir brauchen also weiterhin und mehr denn je die Philosophie, um zu verstehen, was das "Ich" eigentlich ausmacht. Alva Noë zeigt, wo die Ergebnisse der Hirnforschung zu kurz greifen, und erteilt den Forschern eine klare Absage, die meinen, man könne menschliches Bewusstsein demnächst in der Petrischale erzeugen. Denn der Mensch ist weit mehr als sein Gehirn. Wir sind keine Computer: Die Seele wird uns nicht aufgezwungen. Wir erschaffen sie selbst. (Piper)
Buch bei amazon.de bestellen