Alessandro Baricco: "So sprach Achill"

Die Ilias nacherzählt von Alessandro Baricco


Der Urkrieg im Gemenge literarischer Gattungen

"Wo der Triumph der Kriegskultur am stärksten ist,
dort ist auch die weibliche Neigung zum Frieden
von der größten Hartnäckigkeit und der längsten Dauer."

(Aus dem Nachwort des Autors, Seite 186)

Die Ilias ist wahrscheinlich das älteste weithin bekannte literarische Werk, das bis heute auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise gelesen wird. Es befruchtete in seiner Rezeptionsgeschichte - mehr als zweieinhalbtausend Jahre lang - zahlreiche Nachfolgewerke, wurde zum Prototyp des Erzählens von Gewalt und Liebe, den beiden bestimmenden Triebkräften der Menschheit und somit der literarischen Welt.

Unter Literaturinteressierten mag der Inhalt des Epos bekannt sein; obwohl sich eine Inhaltsangabe der einer Rezension angemessenen Kürze entzieht, sei sie hier zur notwendigen Eingrenzung versucht.

Auslöser ist der Streit zwischen den Göttinnen Aphrodite, Pallas Athene und Hera: Wem gebührt die von der beleidigten Göttin der Zwietracht heimtückisch hinterlegte Frucht mit der Aufschrift "der Schönsten"? Zeus zieht sich zurück und überträgt das Urteil um den "Zankapfel" einem Sterblichen, dem trojanischen Prinzen Paris. Der Lohn für sein Urteil ist die schönste Frau der Welt, Helena, die jedoch bereits mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet ist. Das tückische Versprechen und die Entführung Helenas nach Troja sind Auslöser des Trojanischen Krieges.

Als das Epos der Ilias - und somit dieses Buch - einsetzt, belagern die Griechen schon zehn Jahre lang vergeblich die feindliche Stadt. Der vormalige Streit der Götter zieht immer weitere menschliche Kreise. Agamemnon, Anführer der Griechen, raubt Chryseïs, die Tochter eines Apollon-Priesters. Doch muss er seine menschliche Kriegsbeute zurückgeben und fordert Ersatz. So gerät er in Konflikt mit Achill, der sich in der Folge ebenfalls entehrt sieht und sich aus den Kämpfen zurückzieht. Der Zorn des Achill, Triebfeder des Epos, findet auch zum Ende hin stets neue Nahrung. Er wendet zwar die drohende Niederlage der Griechen durch eine öffentliche Versöhnung mit Agamemnon und seinen Wiedereintritt ins Kampfgeschehen ab, um aber dafür nun der Wut auf den Trojaner Hektor nachzugeben. Dieser hat seinen besten Freund und Kampfgefährten Patroklos getötet. Erst nach zwölftägiger Schändung von Hektors Leichnam findet er Mäßigung und überlässt ihn zur Bestattung dessen Vater Priamos, König von Troja und auch Vater des eingangs erwähnten Paris. Die listenreiche Eroberung von Troja mittels des allseits bekannten Trojanischen Pferdes ist aber nicht mehr Teil der Handlung der Ilias.

Das ursprünglich von den Rhapsoden über Jahrhunderte nur mündlich vorgetragene und so im ganzen griechischen Sprachraum verbreitete Epos wurde vor gut 2600 Jahren niedergeschrieben und sprachlich fixiert. Das Versepos in 24 Gesängen wurde zum Ausgangspunkt für zahllose Übersetzungen, so auch für die italienische Prosaübersetzung von Maria Grazia Ciani (1990). Der italienische Schriftsteller und Medienprofi Alessandro Baricco versuchte, das Werk für eine mündliche Aufführung an einem Abend, für öffentliche Lesungen in Rom und Turin, zu adaptieren. Bei der Prosafassung blieb er. Aus den 15000 Versen im heute wenig gehörten Hexameter machte er ein handliches Buch in ungebundener, aber dennoch klassisch zeitloser Sprache.

Doch nach Kürzung und Aufgabe des Metrums verändert ein anderer Eingriff umso mehr den Charakter des altgriechischen Epos: Ausnahmslos alle Götterauftritte wurden gestrichen. Nach dem ungarischen Literaturwissenschaftler György Lukács ist der Roman das von den Göttern verlassene Epos; Baricco gebiert somit einen Roman auf der Basis der antiken Heldenerzählung. Und schon verlässt er wieder die literarische Gattung und kehrt für die öffentliche Lesung die Erzählperspektive ins Subjektive. Nicht der Rhapsode gibt seine überlieferte Sicht des Geschehens weiter. Jetzt sind die Betroffenen am Wort. Einundzwanzig Personen sprechen für sich und schildern das Geschehene aus ihrer eigenen Wahrnehmung, beginnend mit Chryseïs, der von Agamemnon geraubten Priestertochter. Nicht der Epenerzähler, sondern erst der Leser - beziehungsweise Zuhörer - fügt die Texte wieder in ein Werk zusammen. Der Zorn des Achill wird relativiert und zum theatralischen Geschehen zwischen rachsüchtigen Menschen. (Damit das funktionieren kann, musste Baricco Überleitungstexte anfügen. Diese sind durch Kursivdruck kenntlich gemacht.)

Es mag der wohl selten am Original und eher an den Prosanacherzählungen von Gustav Schwab oder Michael Köhlmeier geübte Epenkenner und Leser entscheiden, ob diese Kurzfassung noch ein Epos ist, ob der mythische Homer sein Werk noch wiedererkannt hätte.

Man kann es aber abseits der literaturkritischen Überlegungen auch anders sehen: Alessandro Baricco hat ein neues Werk geschaffen, das sich für gegenwärtige, auf einen einzelnen Abend zu beschränkende Rezeptionen eignet. Er weiß um die Wirkung und Kraft des Originals und lässt daher dessen Echo in einem jetzt wirksamen Stück, Roman oder Epenrest gegen unsere heutigen Kriege anspielen. Das ist ihm glaubhaft gelungen.

Der Rezensent empfiehlt nur noch einen Wechsel der Gattungen: Diese Ilias wäre ein ideales Hörbuch.

(Wolfgang Moser; 11/2011)


Alessandro Baricco: "So sprach Achill. Die Ilias nacherzählt von Alessandro Baricco"
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Carl Hanser Verlag, 2011. 190 Seiten.
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Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von "La Repubblica". 1994 gründete Baricco zusammen mit Freunden die Scuola Holden, eine Privatuniversität, an der er kreatives Schreiben unterrichtet. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theatertücke verfasst. Er wurde mit dem "Premio Campiello", dem "Premio Viareggio" und dem "Prix Médicis étranger" ausgezeichnet. Sein Werk erscheint in zahlreichen Sprachen.

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