Anka Muhlstein: "Die Austern des Monsieur Balzac"

Eine delikate Biografie


Man kann den an der Wende vom 18. auf das 19. Jahrhundert geborenen Honoré de Balzac mit Fug und Recht zu den am besten biografisierten Autoren der französischen Literatur zählen. Auf dem Buchmarkt findet sich heute eine erstaunlich lange Reihe von Büchern, die den Verfasser der "Comédie humaine" aus allen nur erdenklichen historischen, politischen und literaturgeschichtlichen Zusammenhängen zu fassen versuchen, durchaus mit unterschiedlichem Erfolg. Die erfahrene französische Autorin Anka Muhlstein, die mit ihren Büchern zu den Feldzügen Napoleons und den Porträts von Elisabeth von England und Maria Stuart gut lesbare Darstellungen zu den wichtigen Persönlichkeiten der Vergangenheit verfasst hat, wendet sich in der vorliegenden Veröffentlichung nun dem Mann zu, dessen Schilderungen seiner Gegenwart für das heutige Verständnis der Zeit unmittelbar nach der Französischen Revolution prägend sind.

Von der Konstitution eines Menschen auf sein Wesen zu schließen, ist ein schwieriges Unterfangen, denn damit unterstellt man demjenigen immer auch ein bestimmtes Verhalten. Honoré de Balzac, der in einer der frühen Daguerreotypien 43-jährig mit geöffnetem Hemd, der rechten Hand über den Brustkorb, durchaus stattlich wirkt, müsste man also eine Lebensweise unterstellen, die dem körperlichen Wohlbefinden eine hochrangige Stellung einräumt. Auch ein zweiter Fehlschluss, vor dem Literaturwissenschaftler immer warnen, könnte genau zu dem selben Resultat führen. Leitete man aus den Präferenzen der Romanfiguren Balzacs seine eigenen Vorlieben und Leidenschaften für das Essen ab, man täte dies um den Preis der Verklärung des Autors. Und doch, so ganz aus der Luft gegriffen sind diese Parallelen nicht, wenn sie sich auf Balzac beziehen. Balzac war ein guter Esser und wusste ganz in der Tradition der französischen Haute Cuisine keine Leckerbissen zu missen, doch war er immer mehr Gourmet als Gourmand. Folgen wir Anka Muhlstein, die hier sauber getrennt die Lebensweise des Schriftstellers in den zeitlichen Kontext einordnet, stellen wir fest, dass Balzac in den verschiedenen Zeiten seines Schaffens ein durchaus wechselvolles Verhältnis zum Essen hatte. So schildert sie, wie er vom Hungerleider in seinen frühen Pariser Jahren auch später in seiner kreativen Schaffenszeit als Dichter immer wieder den bewussten Verzicht auf Speisen und Getränke einsetzt, um in Rekordzeit Teile seines unvollendeten, 88 Titel umfassenden Romanzyklus "Die Menschliche Komödie" zu schreiben. Auch in der Zeit seines späten Glücks, als er sprichwörtlich in der letzten Sekunde vor seinem Tod 1850 noch die Polin Ewelina Hanska heiratete, verzichtete er gerne auf die vielen Vorzüge der französischen Küche und begab sich in die, wie er es schilderte, "große Wüste" der Kulinarik. Nicht jedoch, ohne seine Töchter zu bitten "schreibt eine gut und klar verständliche Anleitung, klar und verständlich genug, damit wir den Muschiks hier in der Küche sagen können, wie man 1. die von Eure Mutter erfundene Tomatensauce macht ... 2. das Zwiebelpüree, wie Louise es bei Eurer Großmutter zu machen pflegte".

Ein nicht minder breites Spektrum an Vorlieben findet sich auch in seiner Literatur. Da sind die vielen verschiedenen Typen aus allen Bereichen der Gemeinschaft, seien sie von hohem oder niederem Naturell, ländlich oder städtisch geprägt, sie alle nehmen an Tischgesellschaften teil, die Balzac als den Ort definiert, an dem sie ihr Wesen zutage treten lassen. Muhlstein, die anhand vieler Beispiele zeigt, auf welch komplexe Weise Balzac das gemeinsame Mahl als Dreh und Angelpunkt der Beziehungs- und Typkonstruktion im Roman nutzt, vergisst dabei nie, auch den historischen Hintergrund, der heute vielfach für das Verstehen vorausgesetzt sein muss, in ihre Biografie zu integrieren. Dem im Untertitel geschilderten Anspruch, eine "delikate Biografie" zu schreiben, ist sie mit diesem Werk vollkommen gerecht geworden.

(Jan Hillgärtner; 02/2011)


Anka Muhlstein: "Die Austern des Monsieur Balzac. Eine delikate Biografie"
Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
Arche Verlag, 2011. 176 Seiten.
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