António Lobo Antunes: "Drittes Buch der Chroniken"


69 Miniaturen eines großen Autors

António Lobo Antunes ist einer jener Autoren, die, um das zu sagen, was sie sagen müssen, üblicherweise viel Raum und epische Breite brauchen. Würde man Vergleichbares in der Welt der Musik suchen, so würde man schon zu den späten Symphonien Gustav Mahlers greifen müssen, zu den großen Adagios aus den letzten drei Symphonien Anton Bruckners und natürlich zum Fado, diesem traurigen portugiesischen Gesang, der sich wie ein roter Faden durch die Prosa von António Lobo Antunes zieht.

Die immense Spannung der großen Romane des fast siebzigjährigen Portugiesen ergibt sich aus einer durch eine Unzahl von Stimmen und Zeiten, Rückblicken und Perspektivwechseln gekennzeichneten Prosa, die stilistisch unverwechselbar und originell ist. Eine aufgebrochene Poesie der Stimmen, deren Zusammengehörigkeit oft erst zu einem Punkt im Roman Sinn ergibt, an dem man bereits ernstere Zweifel an der eigenen Rezeption des Textes hat. Belohnt wird der Leser, der durchhält und dem Autor das Vertrauen schenkt und entgegenbringt, welches sich dieser erwartet und fordert.

Zusätzlich zu seinen großen Romanen hat António Lobo Antunes alle vierzehn Tage Kolumnen für eine große Tageszeitung geschrieben, die in drei Bänden erschienen sind, die mit "Buch der Chroniken", "Zweites Buch der Chroniken" und "Drittes Buch der Chroniken" im Luchterhand Literaturverlag erschienen sind.

Im dritten Band sind neunundsechzig kurze Texte zusammengefasst, von denen die meisten in die Kategorie der Meisterwerke fallen. In solch konzentrierter Form wie hier sind diese kurzen Meditationen, Fantasien und Betrachtungen verschiedenster Themen perfekte Beispiele einer Gattung, die sich nur schwer einordnen lässt. Viele der Texte haben einen autobiografischen Hintergrund, bewegen sich aber auf einem Terrain, in dem man die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion weder trennen kann, noch will.

Der Autor betrachtet unter Anderem den Prozess des Schreibens, der, aus einiger Entfernung wahrgenommen, so noch tiefgehender seziert wird, als es direkt möglich gewesen wäre. Tod, Vergänglichkeit, Krankheit und die Abgründe der menschlichen Seele sind weitere Themen, denen sich António Lobo Antunes hier eingehend und aus den verschiedensten Blickwinkeln widmet.

In diesen virtuos instrumentierten Texten wechseln die Stimmungen rasant und trotzdem so genau, dass man als Leser rasch gefangen ist und so manchen Text gleich noch einmal liest.

Immer wieder treten die Albträume seiner Zeit im Militär und als Arzt in Angola zu Tage, die überzeugenden und ehrlichen Texte verweigern sich trotzdem jeder möglichen Effekthascherei. Zusätzlich nimmt der Autor seine Vergangenheit und seine Familie unter die Lupe, betrachtet die Ehe seiner Eltern und seine Kindheit im Elternhaus. Die Vergangenheit Portugals ist ein weiterer unauslöschlicher Brennherd in den meisten Texten dieses Autors, auch wenn die Salazar-Diktatur nicht direkt angesprochen wird.

Gedanken über zeitgenössische Schriftstellerkollegen wechseln sich mit Gedanken über Sherlock Holmes und Erlebnissen des Autors mit Büchern von Virginia Woolf und anderen Autoren ab, während Reiseerinnerungen interessante Einblicke in die Wahrnehmung des Autors bieten.

Die Sternstunden dieser Sammlung sind aber die feinen, traurigen und sehnsüchtigen, teilweise frivolen, realen oder auch eingebildeten Liebesgeschichten, die António Lobo Antunes hier erfunden oder einfach verschleiert und aufgebrochen wiedergegeben hat. Andeutungen und Ausschnitte aus dem großen Bild bestimmen die Texte, die der Leser genau und behutsam entschlüsseln muss, um das Gesamtbild zu sehen, das der Autor möglicherweise vor Augen gehabt hat.

Hier ist auch der Schlüssel zu diesen feinen Miniaturen zu finden, welche die meisten erwarteten Regeln der Kunst der Kurzprosa missachten oder umgehen, jedoch gerade möglicherweise deshalb, durch ihre fehlende Greifbarkeit als Kunstwerk und die poetische Sprache António Lobos Antunes', umso heller scheinen.

Absolute Empfehlung, vor allem auch als Einstieg in die Welt dieses wichtigen Autors.

(Roland Freisitzer; 11/2011)


António Lobo Antunes: "Drittes Buch der Chroniken"
(Originaltitel "Terciero Livro de Crónicas")
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand, 2010. 317 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Der Archipel der Schlaflosigkeit"

Ein Landgut in Trafaria, südlich von Lissabon, auf der anderen Seite des Flusses Tejo: Hier leben, über ein halbes Jahrhundert lang, drei Generationen einer portugiesischen Familie, gefangen im Würgegriff des patriarchalischen Großvaters, vor dessen tyrannischer Herrschaft es für sie fast kein Entrinnen gibt.
Der Roman beginnt mit der Beerdigung des Großvaters, der das Gut vor Jahrzehnten gegründet und es mit äußerster Kälte, Rücksichtslosigkeit und Gewalt zu wirtschaftlicher Blüte geführt hat. Eine gefühlslose Gier, sowohl in materiellen wie in sexuellen Dingen, prägt ihn bis ins hohe Greisenalter. Er ist gewohnt, sich einfach zu nehmen, was er begehrt, er unterdrückt und betrügt seine Frau, und er verachtet seinen Sohn und seine Enkel, die er für Idioten und Schwächlinge hält. Zusammen mit seinem ebenso gefürchteten Verwalter und mit Unterstützung auch des Priesters herrscht er über das Gut und seine Bewohner mit harter Hand. Gleichwohl verfällt das Gut über die Jahre unaufhaltsam. Und erst als sein jüngster Enkel auf das Erbe verzichtet und alles daransetzt, wenigstens seinen Bruder zu retten, scheint der Teufelskreis aus Unterdrückung und Angst durchbrochen zu werden.
"Der Archipel der Schlaflosigkeit" erzählt eine Geschichte von der Allgegenwärtigkeit archaischer Gewalt. Im Mittelpunkt stehen die Themen, die das Werk dieses vielleicht größten portugiesischen Autors unserer Zeit bis heute prägen: der Aufstieg und Niedergang des Landes und seiner Menschen und die Frage, wie es dazu kommen konnte, der Schrei nach Liebe und menschlicher Wärme und die Suche nach dem Sinn unserer Existenz in einer grausamen Welt, in der selbst Gott, wie es scheint, den Menschen nicht mehr helfen kann. (Luchterhand Literaturverlag)
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