Olivier Adam: "Gegenwinde"


Wenn das Leben weitergeht

Das Leben geht weiter. Einfach so. Immer. Es wird geatmet, geschlafen, gegessen, gearbeitet. Jeden Tag aufs Neue. Auch wenn über manche Menschen gerade die Katastrophe hereingebrochen ist. So, wie es in diesem Roman von Olivier Adam seinen Protagonisten ergangen ist: Paul, einem Schriftsteller, und seinen zwei Kindern, vier und neun Jahre alt, bricht mit einem Schlag der Boden unter ihren Füßen weg. Von heute auf morgen ist Sarah, die Mutter und Ehefrau, verschwunden. Spurlos. Die Wunde, die sich auftat, drohte alles zu verschlingen. Nach lähmenden Monaten der Angst und Verzweiflung verkauft Paul das gemeinsame Haus mit den Erinnerungen und versucht einen Neuanfang in seinem Geburtsort an der bretonischen Küste. In einem neuen Haus als gedächtnislosem Ort, von dem sich Paul wünscht, dass es auf seine Seele abfärbt. Weiß, hell, neu.

Es ist eine raue, sturmgepeitschte Landschaft, in die Adam seine beschädigten Menschen versetzt.
Herbst in der Bretagne: Geisterhafte leere Ferienorte, verbarrikadierte Sommerhäuser, während das Meer und die zurückgebliebenen Einheimischen nie aufhörten zu leben. Hier versucht die kleine Familie ein neues Leben zu beginnen. Paul findet Arbeit in der Fahrschule seines Bruders, die Kinder gehen wieder zur Schule, das Leben scheint sich zu normalisieren. Aber auch die neuen Begegnungen zeigen verletzte Menschen, die mit ihren Gespenstern leben.

Olivier Adam ist ein Meister einer intensiven Sprachführung, die eine Welt erschafft, die nur noch aus dem Rauschen des Meeres zu bestehen scheint, reale Leser und fiktive Hauptfiguren gleichermaßen aufnimmt, verschluckt, und das Gefühl vermittelt, wie gut es doch ist, so überflutet und verschlungen zu werden. Er lässt das Wetter an der Küste der Bretagne zum Spiegelbild des Lebens werden, das in der Form der Sprache im Stakkato über uns hereinbricht, uns begräbt, uns nicht verschnaufen lässt. Atemlos ist die Sprache, und atemlos geht das Leben weiter. Dann wieder läuft alles in Zeitlupe ab, eine allgemeine Lethargie, eine Lähmung tritt ein, wir erleben es als eine Verschnaufpause. Es ist ein Leben im Gegenwind, wie es der Buchtitel andeutet, ein Leben unter einem instabilen Himmel, wo das Wetter sich ständig ändert, nie etwas wirklich Bestand hat, wo die Welt sich nie ausruhen zu müssen scheint; alles lebt intensiv, nichts bleibt gleich, nichts ist je ausgeglichen.

Diese Geschichte eines Verlustes, der Angst und der lähmenden Ungewissheit könnte auch als Krimi erzählt werden oder als Ratgeber. Aber indem Adam sie in diese stürmische Landschaft einbettet, gewinnt sie an unaufgeregter Authentizität und lässt uns teilhaben an Welten, die wir vielleicht lieber nicht kennen wollen. Er erzählt vom Verschwinden von Energie und Zuversicht, aber auch vom selbstverständlichen Glauben an das Leben.

Es ist aber trotzdem kein deprimierendes Buch, auch keines mit Lebensweisheiten und Lebenshilfen, es zeigt in keine Fluchtrichtung. An einer Stelle taucht die Frage auf: Was ist, wenn das eigene Leben völlig zusammenbricht, keinen Halt und keine Aussicht mehr bietet, wäre da nicht der Tod eine Lösung? Adam lässt es die kleine Tochter fragen, ob man denn nicht, wenn Mama nun tot wäre, nur zu sterben bräuchte, um bei ihr zu sein? So was soll man nicht sagen, war seine Antwort. Einfach weil niemand weiß, was aus einem wird, wenn man stirbt. Und was glaubt er, fragt die Tochter nach? "Ich glaube, dass dann alles aufhört." Und deshalb müsse man einfach leben, solange man lebt: Unvollkommen, mit Gespenstern im Gepäck und mit einem instabilen Himmel über sich.

Olivier Adam ist einer der neuen Sterne am französischen Literaturhimmel. Auch wenn man nur seinen vorigen Roman kennt, so ist er dies zu Recht. Olivier Adam, geboren 1974 und in der Pariser Banlieue aufgewachsen, hat bisher fünf Romane, drei Jugendbücher und einen Erzählband veröffentlicht. Sein Roman "Keine Sorge, mir geht's gut" wurde verfilmt und erlangte in Frankreich und Deutschland Kultstatus. "Gegenwinde" ist nun ein ebenso furioser wie grandioser Roman, der mit seiner rasenden Intensität die Leser gefangennimmt und  mitreißt in dieses prekäre Leben im Sturm.

Gibt es keinen Trost am Ende des Buches? Nicht in der Form von geläuterten Lichtfiguren, die ihr Leben entrümpeln und sich neu erfinden. Wenn der Himmel einstürzt und keinen Stein auf dem anderen lässt, wenn der Regen prasselt, der Wind heult und die Wellen gegen die Felsen klatschen, dann ist es tröstlich, dass sich unsere Romanfiguren in diesem Inferno von Natur und Gefühlen nicht forttreiben lassen; nur die Leser werden in diesem Stakkato der Worte mit auf die Reise genommen.
Tröstlich ist allerdings, dass sie noch immer da sind und dass das Leben weitergeht.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 03/2011)


Olivier Adam: "Gegenwinde"
(Originaltitel "Des vents contraires")
Aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Klett-Cotta, 2011. 270 Seiten.
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