Pál Závada: "Das Vermächtnis des Fotografen"
Ungarn
im Schatten seiner Diktaturen
Im Jahr 1942 reist der Wissenschaftler László
Dohányos mit einigen Mitarbeitern in ein von der
slowakischen Minderheit dominiertes Dorf im Südosten Ungarns,
um dort so genannte Dorfforschung zu betreiben: Die Gruppe
möchte die dörflichen Strukturen und nicht zuletzt
auch die soziale Ungerechtigkeit dort studieren. Zu
Dohányos' Mitarbeitern gehört der jüdische
Student
Jenő
Adler. Als Dohányos und seine Leute auf den von
ihnen gesuchten Ansprechpartner, den lokalen
Bauernrevolutionär János Dusza, treffen, ergibt
sich kurzfristig eine feindselige Stimmung zwischen den
Städtern und einigen Einheimischen. Der Betreiber eines
örtlichen Fotogeschäfts hält den
spannungsgeladenen Moment mit seiner Kamera fest.
Das Foto, wiewohl in den nächsten Jahrzehnten kaum jemals
überhaupt zur Kenntnis genommen, bildet halb zufällig
eine Ansammlung von Menschen ab, deren Wege - und die ihrer Nachfahren
- sich immer wieder und oft auf verhängnisvolle Weise kreuzen
werden. Adler hält an seiner Verehrung für
Dohányos fest, auch als dieser ihm sowohl während
des Krieges, als er nur knapp dem Holocaust entgeht, wie auch
später bei aufopfernden Aktionen Adlers allenfalls minimale
Unterstützung zukommen lässt. Ihre Familien aber sind
letztlich schicksalhaft verbunden - und dies auch mit einigen Familien
aus dem erwähnten Dorf, nachdem mehrere Junge der
nächsten Generation zum Studieren nach Budapest gekommen sind.
Zu den Protagonisten gehört hier insbesondere
Ádám Koren, der zunächst jahrelang
vergeblich um die Tochter seiner Lehrerin wirbt und sich dann
hoffnungslos in Adlers Tochter verliebt, die allerdings verheiratet
ist. Während die Generation von Ádáms
Eltern mit den Gespenstern der Vergangenheit kämpft, muss sich
Ádám in den späten Siebzigern und
frühen Achtzigern mit einer verwirrenden Zukunft
auseinandersetzen, gelähmt von einer unerfüllten
Liebe und lieblosen Affären zwischendurch.
Schließlich glaubt er am Ziel seiner Sehnsucht angekommen zu
sein.
Wie bereits in seinem ersten ins Deutsche übersetzten Roman "Das
Kissen der Jadwiga" richtet Pál Závada
den Fokus auf Minderheiten in Ungarn: diesmal nicht allein auf die
Slowaken, sondern auch auf die Juden, die, anders als die Slowaken,
auch in kommunistischer Zeit zum Teil massiver Diskriminierung
ausgesetzt waren. Auch der Holocaust klingt noch an, setzt "Das
Vermächtnis des Fotografen" doch genau zu der Zeit an, als
für die ungarischen Juden
die
gefährlichste Zeit
begann.
Während Dohányos eine bemerkenswerte politische
Karriere hinlegt und gelegentlich mit den Fallstricken der
Macht
unangenehme Bekanntschaft schließt - wenngleich er sich
darauf verlassen kann, dass Adler ihm selbstlos zur Seite steht -, wird
aus dem Revoluzzer Dusza ein zahmer, Vetternwirtschaft betreibender
Parteikader. Diese beiden sind Säulen des Romans. Die anderen
Figuren treiben eher dahin; Liebespartner und berufliche
Aktivitäten sind austauschbar, Beziehungen flüchtig,
Freundschaften Zufallssache. Aber es scheint, als kämen die
Personen auf dem hastig geschossenen Foto und ihre Kinder und
Kindeskinder nicht voneinander los, als bände sie das von
Ádám Koren zufällig entdeckte Bild
unauflöslich aneinander.
Ein Überblick über die Familienbande erleichtert dem
Leser das Zurechtfinden, wofür er Dankbarkeit empfinden
dürfte, gibt es doch recht viele Protagonisten in diesem
Roman. Nicht jede Anspielung wird man, kennt man die ungarische
Nachkriegsgeschichte nicht, auf Anhieb verstehen, etwa, dass es sich
bei dem abfällig als "der Glatzkopf"
bezeichneten Politiker um den Ministerpräsidenten
Mátyás Rákosi handelt. Das Nachwort
von
György Dalos hilft dem deutschsprachigen Leser,
die Zeit, in der "Das Vermächtnis des Fotografen" spielt,
besser zu verstehen.
Ein spannender, erotischer, aufrüttelnder Roman, der nicht nur
einen ungewöhnlichen Blick auf das Ungarn der letzten siebzig
Jahre zulässt, sondern auch die menschlichen Beziehungen an
sich, den Umgang mit Außenseitern und Minderheiten, die ganz
alltägliche Diskriminierung kritisch und melancholisch
beleuchtet.
(Regina Károlyi; 04/2010)
Pál
Závada: "Das Vermächtnis des Fotografen"
(Originaltitel "A fényképész
utókora")
Deutsch von Ernö Zeltner.
Luchterhand, 2010. 475 Seiten.
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